Silvia Klara Breitwieser
AM SEIDENEN FADEN 2



Eines Tages zieht sich ein an Boden und Baum gebundenes Wesen, genannt Seidenraupe, neugierig, konsumfreudig und gefräßig, aus einem seltsamen Trieb heraus zurück und spinnt sich einen eigenen Raum. Das Wesen ist allein und ohne Hilfe fähig zu bauen, weil es seine eigene SPINNMASCHINE ist. Es spinnt einen Raum (Kokon), der wie ein Gewand ist. WAND und GEWAND haben denselben Wortstamm. Das GESPINST wird ein Raum ohne Tür und Fenster und ohne rechten Winkel, - ein eiförmiges 'Haus', ein seidener Palast, eine weiße, helle, schützende Höhle - denn das Haus ist lichtdurchlässig, aber blickdicht. Das seltsame Tier-Wesen weilt nicht lange in seinem Kokon, sondern durchbricht die dicht gesponnene Wand (das 'Gewand', seine zweite Haut, sein Kleid, seine Robe...), breitet die Flügel aus, die sich in der Stille des lichten Hauses gebildet haben, und FLIEGT. Das 'Gewand' hat (VER)WANDLUNG ermöglicht, ja ist selbst Verwandlung. Wenn der Mensch allerdings sich des Seidenraupenkokons bemächtigt, um den seidenen, hauchdünnen Endlos-Faden, aus dem er gewoben ist, zu gewinnen, ist das der Tod von Raupe und Schmetterling.

S.K.B., 2007

 

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