Kunsttheorie / Kunstvermittlung

Andrea Bärnreuter | Berlin
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Solarplexus - Sonnengeflecht
Hirngespinste von Andrea Bärnreuther

Solarplexus - Sonnengeflecht: Ort der Verdichtung von Nervenzellen, ein autonomes Geflecht sympathischer und parasympathischer Nervenfasern unter der Haut, das ankommende Signale aufnimmt, verstärkt und weiterleitet, ein Energiezentrum des Nervensystems, eine Schaltzentrale von Informationen zur Regulierung von Organen, ein Collection Point, Ort der Rezeption, Transformation, Distribution und Integration, eine Schnittstelle zwischen Emotionen und Intellekt, Verstand und Gefühl, eine Kraftquelle, ein Bild des kontinuierlichen Energieflusses und der Zentriertheit des Menschen.

Konstruktion der Persönlichkeit, ihrer Entfaltung und Gestaltungskraft im Bild der Sonne: Solarplexus-Chakra, das Sonnengeflecht in der Konfiguration des Rades, des Sonnenrades, begabt mit Strahlkraft, Ausstrahlung. Ein Bild regenerativer Lebensenergie.

Die Sonne geht auf und sie geht unter. Die Sonne „weint“, sie verfinstert sich: Im Makrokosmos ein Bild des Unheils, ein schlechtes Omen, im Mikrokosmos Blockade und Aufruhr, Spannung, Deformation. Das Organ reißt sich los, bricht aus. Implosion und Explosion zugleich; das unsichtbarVerborgene und zu Verbergende tritt zum Vorschein.

Der Körper, der aus der Fassung gerät, als Antwort auf die ekstatische Verfassung des Menschen, als Erdung des Geistes? Der Körper als Fremder, als Feind in mir, als Trauma, als Skandalon. Seine Autonomie ein Angriff auf die Autonomie des Geistes, des 'absoluten' Geistes.

Der Körper als Schlachtfeld. Der Körper als Gefängnis, als Grenze, als Wunde, als Schrei: Du musst Dein Leben ändern! Der Körper als HeteroTopos, als ein anderer Ort, der das Denken umlenkt, in neue Bahnen lenkt.

Der Schnitt durch den Körper als Spur einer Schnittstelle von Körper und Geist, als Naht der Versöhnung im Körpergedächtnis. Die Narbenschrift eine Zäsur im Bewusstsein. Ein erster Schritt zum UmDenken, zur Wahrnehmung der unverwindbaren Grenze menschlicher Eigenmacht, einer „Wahrnehmung, die rahmen- und randlos ist, entrüstet, vollkommen unbewaffnet, eine Blöße ohne schützende Kontexte“ (Dietmar Kamper).

Dietmar Kampers Begriff der „Okzidentierung“, der „Sonnenuntergangsrichtung als Lebensform“, als „Annahme der Zeit“ bedeutet die Einsicht in den unauflöslichen Zusammenhang von Sonne und Tod, die Einsicht in die Schönheit des Menschen, die von seiner Vergänglichkeit und Verletzlichkeit nicht zu trennen ist.

„Man kann weder der Sonne noch dem Tod unverwandt in die Augen sehen.“ (François de la Rochefoucauld). Für Dietmar Kamper bedeutet das Leitgestirn der „untergehenden Sonne“ eine andere Wahrnehmung der Nacht, nicht als „das Gegenteil des Tages, sondern [als] das, was ihn umgibt, als „seinen undichten Behälter“: „Der Okzident aber gehört dem Menschen, der nicht göttlich sein will, der zum erstenmal vielleicht mit seinem sterblichen Körper aufrecht und barhäuptig unter der Sonne steht, die Augen gegen Mitternacht gewendet.“

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Koronabögen steigen aus aktiven Gebieten - oft mit Sonnenflecken assoziiert - in
die heiße Korona. Sie werden durch das Magnetfeld geformt. Heißes Plasma schießt
entlang des Bogens. (© NASA/Trace Team)
 

Biografie Andrea Bärnreuther, Agentur für Kunst und Wissenschaft, Berlin. Wissenschaftliche Schwerpunkte: Kunst, Architektur und Stadtplanung im 20. Jahrhundert, NS-Forschung, museologische Themen, transkulturelle und interdisziplinäre Fragestellungen im Spannungsfeld von Kunst und Wissenschaft (Herausgeberin der Publikation „Die Sonne - Brennpunkt der Kulturen der Welt“, München 2009). „Mich bewegen Fragestellungen im Spannungsfeld von Kunst und Gesellschaft bzw. Kunst und Politik sowie existentielle Fragestellungen, die allen Kulturen gemeinsam und immer wieder neu zu stellen und zu beantworten sind. Mich interessieren die Schnittstellen, an denen sich Kunst, Wissenschaft und Philosophie berühren. Und mich leitet die Einsicht, dass die meisten Probleme der Menschen, der Gesellschaft und der Völker ihren Kern in Wahrnehmungsfragen haben.“

A.Baernreuther(AT)gmx.net, ab(AT)kunst-wissenschaft-agentur.de