Crefeld mit C, Krefeld mit K
SILVIA BREITWIESER; aber auch ich
Ein Aufsatz wie unscharfe Fotographien
Von Venedig, Dorsoduro und Bregenz aus, Mai 2009
Schnelle Bilder
SILVIA, kann ja sein, dass ich doch ein Paparazzo bin, lediglich ein ewiger Fotografierer, ein Bildknipser aber mit FOTOGRAFIEN AUS WORTEN. Ich wollte, nichts entkäme mir, und wollte, dass sich Städte und Personen und die besseren Menschen: die Schoßhündchen, in diesem Bilderkram aus Vokabeln wieder erkennen könnten. Dass sie in meinen Sätzen nur schon „drauf sind“, so wie wenn aus einer Menschenmassen-Fotografie einer hervorwinkt, feixend hinter einem Fernseh-Journalisten mit Armen durch die Luft rudert: „Hier bin ich!“, verschmitzt lächelnd . . .
So will ich Dich, mich, Krefeld „DRAUFHABEN“.
Crefeld mit C geschrieben oder mit K, Bregenz, Prag, Moskau, die 35 Jahre in Florenz, die 4 Jahre Venedig: alles, was mir als Heimat bislang über den Weg lief, will ich hier hastig schnappen, - mit Worten. Und über alles, was ich aus Eile weglasse, brüte ich schon jetzt eine ultramarine bis karmesinfarbene Traurigkeit aus.
Im Eins - zwei - drei sollen Crefeld mit C und Krefeld mit K und Du und ich abgelichtet werden.
Dabeisein ist alles
Dass mein Lieblings-Slogan ist: DABEI SEIN IST ALLES, musst Du wissen!
Dabeisein ist alles: man kennt das doch, wie sich Touristen, so Berufsheimatlose, vor dem Kölner Dom, Florenzer Dom aufbauen, alleine oder in Gruppen, vor Sacré Coeur aufbauen und so tun als seien sie ein Herz und eine Seele mit dem Ort. Als gehöre ihnen Florenz und Köln. Und seien mit Paris auf Du und Du.
Ich bin da nicht anders als alle anderen: wie ein Fußballfan sich mit seinen Fußballmannschaft-Idolen zusammen sehen will, will ich das mit Städten. Und mit Genies! Genies, damit etwas von ihrer Intensität in mich hineinflöße. Magari, schön wär's ...
Geniejägerei
Dabeisein ist alles. Als Apostel THOMAS in die Wunde hineinfassen. Ich stellte mich neben oder vor Traum-Personen auf. Zunächst, gerade erst 10, in Bad Cleve in Trümmern, neben Heimat-Dichter OTTO BRUES; 1958 beim Bodensee, neben OTTO DIX. Ferner: frühe 60er Jahre: neben GIACOMETTI in Zürich, DE CHIRICO in Rom; sowieso, 1958, auch in Rom, lehnte ich mich in den silbermetallic Rolls-Royce hinein und quasselte im Überglück auf JEAN COCTEAU ein; er saß hinten, Aprèsskischuhe, Altersflecken auf den Handrücken. Vorne der Chauffeur, genau der aus dem Film „ORPHÉE“: jener HEURTEBISE. Dann: 2 mal CHAGALL, in Paris und en Florence. Sehr oft und diesmal kamen sie zu mir in meinen Stuttgarter 5 x 5-Meter-Keller: der Ballettwunderdirektor JOHN CRANCO mit Prima-Ballerinen: MARCIA HAYDÉE, CARLA FRACCI, Mailänder Scala. BEUYS aus Krefeld in Venedig.
In Baden-Baden DADA-HÜLSENBECK. In Florenz spanischer RAFAEL ALBERTI. In Moskau besah ich ISAAK BABELS Reitergeneral BUDJONNY, wenn er - moribund - auf dem Pferd festgebunden neben der Moskwa letzte Ritte ritt. Ich saß mit Futuristen VIKTOR SCHLOWSKY im Sofa, Moskauer Sofa, um im Fotoalbum MAJAKOWSKI auf Norderney anzuäugen. Noch lang nicht genug: RASPUTIN-MÖRDER FÜRST JUSSUPOW gab ich in Paris die Hand, von K&K Kaiserin ZITA aus Zizers Nähe Heidiland bekam ich Post...
Und dann, '64, „Prag, Prag, nur Du allein“ die ganze Mischpoche um Kafka her: Zeitzeuge GUSTAV JANOUCH, Deutsches Theater Direktor DEMETZ; MAX BROD ja auch noch, der mich noch mehr als meine Bregenzische K&K Großmutter mit K&K-Infusion für immer und ewig impfte und mir den Weg wünschte, ich solle eine Ausstrahlung des „Prager Kreises“ werden ...
Nochmals: schön wär's, magari ...
Städte, Personen, beides Schnellheimaten. Orte und Figuren der Identifikation. Des Umarmen-wollens. Des Dabei-sein-wollens. Wie beleidigend ist da das spiegelnde Panzerglas vor Rembrandt-Bildern ...
Villa Romana Florenz
Aber all das waren auch Exercisen, in Kunst aufzugehen und Künstlern ein Dienstmädchen spielen zu können; 35 Jahre hindurch in Florenz. Ab jetzt kamen all die VOSTELL, ERICH FROMM, FRÖHLICH, GREGOR VON REZZORI, KUNERT, CHOTJEWITZ und BASELITZ, LÜPERTZ und BUTHE und WILLIKENS wie durch Zubringerdienst mir ins Haus. Sprich: VILLA ROMANA. Diese eine regelrechte Falle inmitten von 38 BÖCKLIN-Cypressen und Glühwürmchenlichtgeflacker auf 1 ½ Hektor Sehnsuchts- Terrain, -nett über dem Panorama von Florenz. Ob ich mit 1000, 2000 Künstlern zusammen unter einem Ziegeldach aus Improneta lebte? Wie soll ich das wissen, -in Mathematik war ich immer schlecht.
Aber diese Falle VILLA ROMANA bescherte mir die längst verloren gegangene BREITWIESERIN ins Haus . . . Haus? Eine Fabrik zur Herstellung von Tagträumen, ein Container von Tagträumern, von Sensibilität konstruierenden Ingenieuren, die war die Villa: eine Arche Noah für jede Art von Kunstkreation.
Venedig gleich neben der GUGGENHEIM und zahllose Hunde
Alle Eldorados gehen einmal hopps. Statt der Droge Florenz nun 4 Jahre durch das „Rauschmittel“ Venedig. Und ich knipse und knipse mittels Gedichten und auf Celluloid die Glocken der Salute und Gesuati und Ozeandampfergehupe und Möwengegacker und römischen rosaroten und grünen und himmelblauen LUIGI ONTANI oder EX-Guggenheim-Sekretär PAOLO BAROZZI, der einem aus dem Nähkästchen alles über PEGGY GUGGENHEIM berichtet. Intimes. Im Guggenheim-Museums-Shop tut man so, als kenne man sein Buch über die GUGGENHEIM nicht. Nach BAROZZI stopfte PEGGY sogar tote Hunde aus ...
Hier in Venedig, mit den doch so nicht hinterhältigen menschlichsten Menschen umgebe ich mich mit zahllosen Hunden: außer mit der Pinscherin noch mit 8 Dackeln, um genau zu sein. PEGGY GUGGENHEIMs „beloved babies“ liegen genau hinter unserer gemeinsamen Gartenmauer. Sie hatte 14 Hunde, FRIEDRICH DER GROSSE 11. Und beide Hundeverehrer, sie und er, genießen das Privileg, auf das ich neidisch bin: bestattet liegen sie zwischen den Hunden.
Mein Paparazzotum mit Kunstmachern und Artisten geriet ins Schwanken, wo ich ja ab jetzt Dackeloge werde, Kenner der BASSOTTOLOGIA: PICASSO hatte Dackel, MALAPARTE hatte Dackel, LIEBERMANN, HOCKNEY, BONNARD, BRIGITTE BARDOT, MARGRET ASTOR, WARHOL, KAISER WILHELM, MECHTHILD LICHNOWSKY, JOHN WAYNE, FRIDA KAHLO, VERLEGER FISCHER, ... Und Dackelsprache kapiere ich in the meantime mehr als all die notwendigen Diktionen, um die Welt der Künste und der Künstler zu erhellen. Und ich knipse die Hunde bis zum geht nicht mehr: auf Celluloid. Bei den Hunden darf ich dabei sein, an der Leine zerren sie mich durch die Grachten Venedigs.
Wie aber denn kriege ich jetzt SILVIA BREITWIESER ins Bild? Wie kann ich bei SILVIA dabei sein, etwas, das mir in der Gymnasialzeit nicht richtig glückte?
Crefeld mit C
Crefeld, Krefeld: SILVIA, Deine (und meine) Samt- und Seidenstadt, Bandoneon-Erfinderstadt. Als FRIEDRICH DER GROSSE (heutzutage zwischen 11 Hundeskeletten in seinem Park nach seinem Willen endlich, endlich -es brauchte 200 Jahre- verscharrt), als er in Crefeld einzog, staffierten die Crefelder Samtstoff über Samtstoff über die Fensterbänke. Die Düsseldorfer strichen die Fensterläden mit Senf anund meinten, sie seien viel toller als die von der Metropole des linken Niederrheins.
Damals mußte man „Kriewelsch“ können, um die Stadt zu verstehen: „ECH KAWIER DECH DOFÜR, DO WOR DEN HEMMEL EN EM BLÖSKE“ („Ich garantiere Dir, da war der Himmel in einer Tüte - also: man war im 7. Himmel“).
Um heute 2009 Krefeld zu verstehen, braucht es erst einmal einen Anfänger-Kursus in Türkisch.
Crefeld und Krefeld bestanden aus Textilien und Textilien und Textilien: Seiden, hübsch ätherisch bleich wie die des spanischen Venezianers FORTUNY, wie man sie auch noch in Seidenmuster-Alben nachblättern könnte in Archiven. Plüsche, Seidenbändel, Haarschleifen, Regenschirm-Seiden; Krawatten- Seiden, Rohseide, Kunstseide, Sonnenschirm-Stoffe.
Und Krefelder? Alles Leute fürs Schönfärben. Stoffe mit mustergültigen Mustern bedrucken. Tuchgroßhandlungen, 99 schornsteingarnierte Seidenfabriken-Schlote, deren Bäuche mit Ziegelsteinlagen in Pullovermustern geschönt waren. Und die Blitzableiter oben in den Wolken aus Qualmkugeln: Fühler schienen wie von Käfern. Oder besser Stricknadeln wie praktische Minaretts hätten die Schornsteine heute hergegeben, indessen legte man sie um.
In Krefeld - früher - waren alle Ärzte, Apotheker, Rechtsanwälte, Geistliche der Pfarren, Tuchhändler, Plüschfabrikanten, Seidenfabrikanten, Webmaschninenfabrikanten: PATRIZIER. Betucht!
In solch einem vormaligen Krefeld, das wie eine braune Fotografie von 1930 dahinbleichte und silbern wurde, in solchem Krefeld mit dabei waren der ganz ganz kleinstaturige PATRIZIER-APOTHEKERBREITWIESER, seine nach Lütticher heiligem Bischof benannte HUBERTUS-APOTHEKE. Krefelder Apotheken waren lyrisch: SCHWANEN-APOTHEKE, ROSEN-APOTHEKE, DELPHIN-APOTHEKE ... Und Patrizier BREITWIESER, weißgekittelt, mit Patentkittelknöpfen zugeknöpft, das mit meinem Patrizier-Haut-und-Geschlechtskrankheiten-Facharzt-Vater, auch weißgekittelt, in einem Wartezimmer; Ostwallrotbuchen schwammen herein als Bilder. Die beiden mauschelten geheimnisvoll über SALVARSAN oder die neumodische Neuheit PENICILLIN. Später ging man, in eben dieser Pracht-Avenue Ostwall voller Brunnen und Musikpavillons aus Gusseisen und DE GREIFF-Säulen, ins Vergnügungs- Etablissement SEIDENFADEN tanzen, Five o'clock.
Es berichtete meine österreichisch-amerikanische Mutter: Dein Apotheker-Vater, kleinstaturig verbeugte sich am Tisch und forderte die Chefsekretärin und rechte Hand aller Seidenfabriken, ledige Ä. S. zum Foxtrott auf: Sie, Ä. S., erhob sich pappelhoch bis in den Himmel gewachsen. Was man, als sie noch saß, nicht vermuten konnte. Den Tanz konnte der Apotheker nicht mehr ausschlagen. Er hüpfte um die zu Hohe.
Krefeld mit K
Krefeld ab 1938 übte ein, eine Trümmerstadt zu werden. Feuerwehrleute zündeten die Synagoge in der Petersstraße an und setzten sich lachend im Kreis auf die Dächer. Wie um ein Lagerfeuer Pfarrjugendliche bei Klampfenmusik. Bald dann ließ sich Krefeld vollregnen mit Phosphorbomben der Alliierten aus der Höhe. Und wurde Trümmerstadt. Dann verflog der Brandgeruch nach Angebranntem, in den Ruinen blühten Holunderbäume. Wenn in Köln am Rhein alles mit 4711 und mit MOUSON - echt Uralt - LAVENDEL der Nase angenehm gemacht wurde, in Krefeld roch es durch die Hubertus- Straße nach der C. J. VAN HOUTEN & ZOON - Cacao-Fabrik. Holländer CONRAD JOHANNES VAN HOUTEN preßte aus der Kakaumasse das Fett und es entstanden Kakau-Pulver und Tafelschokolade. In diesem Parfümwolkenballen nach Kakau gondelte der mythologische Ort: HUBERTUS-Apotheke. Durch die Wolken darüber und die klassizistischen Hausruinen daneben sprengte mit gekreuzigtem Erlöser im Geweih der Hirsch des heiligen Belgiers: Und später, in diese Quellwolken, in dieses Kakau-Parfüm: aus dem Fenster der Apotheke, wie ein CHAGALL in Blumensträuße, FLIEGT der so kleinstaturige Apotheker, Herr BREITWIESER davon. Feiner Herr, Patrizier war er ja.
Apothekers - Tochter
Eine Zeit vorher hatte ich dessen höheres Töchterchen, die SILVIA (eine von den zwei Töchtern) zur Tanzstunde abholen sollen. Durch eine geänderte Partner-Wahl nach dem Mittelball war ich an diese mich mit Zierlichkeit und porcellanerner Schönheit verängstigende Lyzeal-Schülerin geraten. Wie aus Porcellan. Sicher trug sie hinten am Hals die Manufaktur-Marke der Porcellanpuppenhersteller? Und schloß Augen mittels Bleikugeln im Kopfinnern.
Sie, SILVIA, plus großstaturiger-Apothekerinnen-Mutter, erwarteten auf dem Kanapee des ersten Geschosses der Apotheke meinen Anstands-Antrittsbesuch. Im Erdgeschoss hatte allerdings der kleinstaturige Apotheker mich abgefangen und wies mich - so wie VERGIL den DANTE führend bei der Hand - in die Welt der Bronze-Mörser und Herbarien-Drucke des 17ten Jahrhunderts ein. Wir verloren den Sinn für den Zeitpunkt der Verabredung, durchflogen aber Jahrhunderte. Doch fiel ich aus den Jahrhunderten wieder heraus vors Kanapee der oben im ersten Geschoss wartenden Frauen. Benahm mich linkisch korrekt; zeigte ostentativ meine Ringelsocken und die hochgezogenen Hosenbeine, was man „Hochwasser“ nannte. Wollte demonstrieren wie sehr up-to-date ich in Heutemode stecke. Man aß Kuchen und unter der feisten auswattierten Bischofsmütze des Kaffeekannenwärmers war der Kaffe warm geblieben.
Tänze
Es kam also zu Tanzexercisen: „vor-vor-rückseit-schluss, vor-vor-rückseit-schluss“, wenn man sich an Ellbogen linkisch anfassend durch den Tanzsaal der Tanzschule SCHÜLKE schob. Nach einiger Zeit dann Schlussball unter schepperndem Jazz-Blasorchester-Klang; hinter Pettycoat-Stoffwolkenbarriere verschanzt die porzellainerne SILVIA; man rotierte, strudelte über die parkettierten Böden der Etagen des Grand-Hotels von 1911 CREFELDER HOF; durch Vestibüle, Hallen, Marmorstiegen der nunmehr nicht mehr von der Besatzungsmacht beschlagnahmten renommierten Hauses. So wie Advents-Kalender, wie Martinsfackeln glänzte des elektrische Licht aus den Fenstern in die Ballnacht. Spät dann im Interieur schluchzte eine sentimentale Habanera sehr lasziv.
Einige Zeit hernach wohl noch Apothekerball mit viel „Czardasfürstin“ und Operettenklang: „Silvia, oh Silvia, Du Weltmägdelein“ im Krefelder Gesellschaftslieblingshaus „ET BRÖKSKE“ (Das Brückchen).
Dann aber immer mehr Gymnasiasten aus der Dionysius-Straße unter den Fenstern der Apotheke und unter unterschiedlich gefärbten Schülermützen vom Kopfbekleidungshaus HUT SIMON. Viel offene Münder hinsichtlich der so aparten SILVIA. Ich überließ sie ihnen und dem corteggiare - dem Hofmachen. In meiner mit SARTRE und HEIDEGGER philosophisch untermauerten Verklemmtheit. Kopflos.
Wir Krefelder sind ja prädestiniert, den Kopf zu verlieren oder überhaupt den Kopf zu gebrauchen: Wappenheiliger ist uns SAINT DENIS aus Paris, SANKT DIONYSIUS, der ja Kopf unterm Arm trägt wie ich so oft Dackelinnen und Seidenpinscher. Heiliger ohne Kopf, hübsch und wichtiger seine weichselsauerkirschrote Confektion am Rumpf und das textilfarbengefärbte Leuchten seiner Kaffewärmer-Bischofsmütze.
Il tempo passa, tempus fugat, time goes by.
Ich verlor den Kopf für jemanden in Wien.
Und, ab 1958, verlor ich auf ewig Krefeld und, wie es schien: diese Porcellanheilige: SILVIA. Und dann das berühmte „aus den Augen aus dem Sinn“.
Kakau-Fabrik und Apotheke hören auf
Im übrigen: Kakau-Fabrik und Apotheke hörten eines Tages ganz auf. Das Kakau-Parfüm wurde, als der kleinstaturige in den Himmel fiel, im Sog, der dabei entstand, mitgenommen. Und weggenommen die SILVIA. Ich, neben ihr war ich nie mehr dabei.
Im Flur der Romana in Florenz
Sie wissen ja, ich sagte es Ihnen ja, wie die Übertreibungen meiner Dabeisein-Manie verliefen: in Belgrad und Prag, Leningrad, Krakau und Moskau und immer immer Wien. Und Titograd, Rom, Rom.
Und dann kamen ja wie aus dem notwendigen Ärmel geschüttelt die 35 Jahre Florenz und mein Lieblingskind: die VILLA.
Und in der VILLA, im INGRESSO, wie vom Himmel gefallen auf einmal die SILVIA; sonorige Stimme wie eine Rundfunksprecherin mit ausgewähltem und eindringlichem Hochdeutsch. Nicht zu glauben: nach Jahrzehnten!! Und war obendrein, niemals zuvor konnte man es ahnen: Berufskünstlerin sie auf einmal!!! Jemand also um bildhaftes Weltbild bemüht. Und an deren Weltbild, um mich fortzubilden, ich unbedingt partizipieren wollte! Ich kriegte den Mund kaum zu.
Die Welt sensual inhalieren
Waren wir, sie, ich Intellektuelle geworden? Hoffentlich nicht zu allwissend altklug?
Mein Stuttgarter Ausbilder meines Gehirns, Philosoph MAX BENSE fand: Ein Intellektueller sei jemand im Flugzeug, der auf den Höhenmesser gaffe und wisse die Höhe haargenau. Wir aber, SILVIA, ich und manch andere: wenn wir auf einen Küchenstuhl oder sogar auf einen Küchentisch oder sogar auf einen Küchenstuhl über einem Küchentisch kletterten, wüssten wir alles über Höhe, uns würde schwindelig, schlecht, wir könnten vor Höhe! Höhe riechen, Höhe sehen, Höhe hören, Höhe spüren . . . Höhe anfassen. Höhe schmecken.
Will sagen, Welt wollten wir sensual kapieren und nicht nur wissen wie diese Besserwisser-Intellektuellen.
SILVIA, ich wir waren - sagen wir - Sensualisten.
Den Textilien verfallen
Beide, sie und ich, sowieso dieselben Herkünfte, Textil-Herkünfte aus der: SAMT-, SEIDEN-, FÄRBEREIEN- und STOFFMUSTER-Stadt Krefeld. Fast lachen kann man: SILVIA was für eine Artistin ist sie denn? Sie aus dem Jerusalem der Stoffe!
Mehr oder weniger textilverseucht besteht die ganze SILVIA, eine totale Textilingenieurin: TEXTE, TEXTILIEN, eine TEXTERIN, TEXTILWIRTSCHAFTERIN noch und noch. Bis zum geht nicht mehr dekliniert sie alles Vokabular durch, wann immer es mit STOFFEN zu tun hat, dass die FETZEN nur so fliegen: APPRETUR und GEWEBE, WIRKEN, WIRKUNG, ROTER FADEN, VERFLECHTUNG, VERNETZUNG, SCHUSS und KETTE, STRICKMUSTER, LUMPEN, HEILIGER ROCK VON TRIER oder TURINER LEICHENTUCH, VERSCHLEIERUNGEN, VERWICKLUNGEN, den SCHLEIER nehmen, LODENSTOFF und SEIDENGLANZ schaffen für eine VERFILZTE Welt. Verflixt und zugenäht noch mal.
Sie, SILVIA, wurde - sagen wir mal so - TEXTILISTIN par excellence - per eccellenza: eine neue PENELOPE und die doch trotz ihrer TEXTILITIS auf dem TEPPICH zu bleiben versteht.
Was SPINNT und WEBT sie? Ertüchtigt sich mit TÜCHERN? Was für Überraschungen bringt sie aufs TAPET? :
Bücher aus Torf und HANF (hatte sie auch in Florenz)
Fotografien der Villa Romana wie
SCHNITTMUSTER (Florenz)
TUNIKAS und BAUMWOLLBALLEN (in Kempten)
KISSEN, WINDELN aus Stein (um den Berliner Funkturm)
Sie scheint die Zauberhexe: Frau Holle zu sein, die PLÜMEAUS schüttet sie nur so über der Erde und über uns aus, am laufenden BAND schmeißt sie uns FÄDEN und BÄNDER nach, eine Furie ist sie ...
Und dann meine Verstrickungen?
Und meine Verstrickungen? An meinen TEXTEN, wo ja im Herkunfts-Duden soviel ist wie: TEXTE gleich GEWEBE, finden Sie reichlich VERSTRICKTHEIT, SPINNEREIEN, genügend GESPINSTE und GESPENSTER, GESPENSTIGKEITEN, reichlich VERSPONNEN.
Wo aber SEIDENDAMASTIGES oder was so wie GOLDDAMAST aussieht vorkämen, dann ist es etwas, das ich in den 4 Jahren Venedig weg gestohlen habe. Geklaut den DAMAST-STOFFEN um die Kirchensäulen der „Carmine“, die da ja wie in roten STRÜMPFEN aufgestellt stehen; oder den Kirchenbänken Pfingsten in der „Gesuati“ bei den Zattere weg gezupft.
Gemopst aus den Orientteppichmustern der Paläste entlang den wackelnden Spiegeln der Kanäle: Canal della Giudecca, Canale Cannaregio. Oder den Spitzenkragenzacken der Zinnen des Palazzo Ducale. In Venedig ist alles Mannequin und Modenschau, die Häuser, die gondelnden Gondeln. In Venedig werden wir alle dort: zu einem TEPPICH-MUSTER eines Teppichs aus Isphahan. Wir nichts als; als Muster fallen wir einzeln nicht auf in dem ganzen Schnörkelmeer venezianischer Dekoration. Nimmt man uns, die doch nur ein Muster sind, weg aus der Stadt: entsteht ein sofort ins Auge fallendes Loch ...
(Ein Loch ist ja, wo im Stoff etwas Stoff fehlt, wo im Stoff Stoff fehlt!)
Finale
Ora, però, basta! Jetzt Schluss! Andernfalls explodiert mein Aufsätzchen, das doch lediglich bekennen will, dass ich bei der BREITWIESER und ihren textilen Kunststücken dabei sein wolle, zu meinem bengalisch gleißenden Feuerwerk. Grell wie bombardierte und aufbrennende Seidenfabriken 1944 in der Vormals-Seidenstadt.
Basta. Mir rotieren schon die Gedanken darüber, wie viel ich nicht gesagt habe, mein Kopf wie aufspulende und abspulende Zwirnrollen der Garn-Maschinen mit flitzenden Fäden.
Allerdings, aber, dennoch: SILVIA BREITWIESER! Etwas letztes:
ob Deine Koketterie mit WEB-WEBEREI und INTERNET-Netzwerk-Vernetzungen so nett ist und uns Sensuales vermittelt kann?
Riechen, Spüren, Schmecken, Streicheln, Anfassen ...? Hmmm!?
Quatsch, ich breche ab; so wie ein Faden, der reißt ...
Sowas krieg ich nicht aufs Bild bei meinem Knipsen mit Worten. Monitoren - Bildschirme sind ja noch schlimmer als das Panzerglas vor Rembrandts „Nachtwache“.