Liebe Silvia Breitwieser,
der gestrige Besuch in Ihrem Atelier war für mich sehr inspirierend und hat mir wieder Mut gemacht, mit meinen Ideen und Materialien so lange zu experimentieren und dranzubleiben, bis „es stimmt“.
Danke für die vielschichtigen Anregungen durch das GEWEBEWERK. …. flechten, nähen, binden, weben, wirken, sticken, häkeln, stricken, fädeln, schichten, flicken, spinnen … ich nehme den Faden gerne auf.
Das Assoziative liegt mir, ich kann mich oft gar nicht auf eine Sache allein konzentrieren – also geradeaus denken – wenn es so in meinem Kopf wimmelt. Für die jeweiligen Gesprächspartner eine Zumutung. Das Mäandern ist für mich eine Möglichkeit, jedweder Langeweile zu entkommen oder auch zu entspannen.
Um einschlafen zu können, spinne ich regelmäßig an einem beliebigen Wort weiter.
So gestaltet sich mein allabendliches kreisförmiges Einschlafgewebe. Hier ein Gespinst speziell für Silvia:
GEWEBEWERK - WERKSTÜCK – STÜCKZAHL – ZAHLTTAG – TAGESSCHAU – SCHAUFENSTER - GLASHAUS – HAUSTÜR TÜRSCHLOSS – SCHLOSSPARK – PARKBANK – BANKSCHALTER – SCHALTERHALLE - HALLENBAD – BADEWANNE – WANNENBAD - BADEWASSER - WASSERSUPPE - SUPPENKÜCHE - KÜCHENLIEDER - LIEDERTAFEL - TAFELSILBER - SILBERBLICK – BLICKRICHTUNG - RICHTUNGSSTREIT - STREITFRAGE – FRAGEZEICHEN – ZEICHENSPRACHE – SPRACHROHR – ROHRPOST – POSTAMT - AMTSSCHIMMEL - SCHIMMERLREITER – REITERHOF – HOFDAME – DAMENWAHL – WAHLURNE - URNENFRIEDHOF – FRIEDHOFSRUHE – RUHEKISSEN KISSENSCHLACHT – SCHLACHTRUF – RUFMORD - MORDOPFER – OPFERLAMM – LAMMBRATEN – BRATENSAFT – SAFTFLASCHE - FLASCHENHALS - TUCHMACHER – MACHERLOHN – LOHNARBEIT – ARBEITSZEIT – ZEITGESCHICHTE – GESCHICHTSBUCH - BUCHRÜCKEN – RÜCKENSCHMERZEN – SCHMERZENSMANN – MANNSCHAFT – SCHAFTSTIEFEL – STIEFELABSATZ – ABSATZMARKT - MARKTSTAND – STANDHAFT – HAFTANSTALT – ANSTALTSKLEIDUNG - KLEIDERORDNUNG – ORDNUNGSMACHT – MACHTSPIEL - SPIELHÖLLE - HÖLLENLÄRM – LÄRMSCHUTZ - SCHUTZBRILLE – BRILLENSCHLANGE – SCHLANGENGRUBE – GRUBENLAMPE – LAMPENSCHIRM - SCHIRMHERRSCHAFT – HERRSCHAFTSWISSEN – WISSENSLÜCKE – LÜCKENTEXT – TEXTBEITRAG - BEITRAGSZAHLUNG – ZAHLUNGSMORAL - MORALAPOSTEL – APOSTELBRIEF – BRIEFTAUBE - TAUBENSCHLAG - SCHLAGBAUM – BAUMSTAMM – STAMMBAUM – BAUMWURZEL - WURZELHOLZ - HOLZAUGE - AUGENBINDE – BINDEGEWEBE – GEWEBEWERK
Bei Gewebe denke ich spontan erst einmal nicht an Raster oder geordnete Bindung – sondern an wuchern und wachsen.
Die STADT ist für mich immer noch ein großes Gewebe und Gewaber. Ich bin in einem kleinen Dorf aufgewachsen: ein paar Straßen nur, jedes Haus vertraut, einfache Orientierung: im Westen die Vogesen, im Osten der Schwarzwald, Süden Schweiz, Norden Freiburg, meine Geburtsstadt. In den mittlerweile mehr als 50 vergangenen Berlinjahren hat sich in meinem Hinterkopf ein Rhizom, ein Stadtplanwurzelgeflecht verbreitet. Immer wieder angereichert durch neue Facetten, Wimmelbilder, Szenerien und neu entdeckte Winkel. Wow, da war ich ja noch nie!!! Ein fortwährender Prozess, nie wird ein vollkommenes Gebilde daraus, Stadt ist eben immerwährende Veränderung. Für mich eine Herausforderung, die ich gerne annehme. Will ja nicht einrasten.
Und dennoch ist da das lebenslange Bedürfnis nach Regeln, Handgriffen, Strukturen – wohlwissend, dass sie immer nur für eine begrenzte Zeit oder Raum brauchbar oder haltbar sind, um dann neu erfunden zu werden – je nach Lebenslage.
Inspirationen fließen lassen oder steuern
Assoziationen ordnen oder ausufern lassen
Zufälle einordnen/interpretieren
Systeme aufbrechen, weiterentwickeln, auf den Kopf stellen
Vorgegebenes annehmen oder ‚gegen den Strich‘ verwenden
Regeln aufstellen oder brechen
Ja, Regeln brechen – ich hasse vorgestanzte Programme, die mir vorhersagen wollen, was ich zu tun gedenke - und selbstverständlich auch Formulare aller Art. Das wirkliche Lebenslabyrinth passt da ja nie rein. Ich verstehe die Formularverweigerer sehr gut.
Dieses - vielleicht nur scheinbare - Dickicht ist allgegenwärtig und beeinflusst auch meine nach der Pensionierung wieder aufgenommenen künstlerischen Versuche + Experimente.
Meine mittlerweile abgeschlossenes Werkreihe 7 ½ Minuten vor 3 geht von der entsprechenden Zeigerstellung einer Uhr aus. 4-fach kombiniert entsteht eine Figur, die durch drehen und spiegeln, durch Wechsel von Form und Grund (positiv/negativ) 16-fach variiert. Irgendwann reicht es mit dem Regelhaften, alle 16 in die Waschmaschine hinein, durcheinandergewirbelt, in Frischhaltefolie verpackt und kreisförmig montiert.
Mit der handgesteuerten Maschinenzeichnung habe ich eine Technik entwickelt, die mich nicht immer machen lässt, was ich will. Ergo herausfinden, was sich machen lässt.
Vom Gegenständlichen habe ich mich nach einer längeren Schaffenspause verabschiedet. Seit einigen Jahren interessiert mich:
Geschichtetes
Transparentes
Palimpseste
fließendes Gewebe
Knoten
Geflecht
Schlinge
Gitter
Falte
Fächer
Netze… und das Rumexperimentieren mit unkonventionellen Materialien und Werkzeug.
Netz, na ja Einkaufsnetz, Haarnetz sind ja eher weibliche Assoziationen. Ich jedenfalls denke auch an ein haltbares großes Netz, in welchem die schönen Gewebewerke gut aufbewahrt und transportiert werden können.
Beste Grüße
Liselotte Ernst