Ethnologien

Ulrich Fleischmann † | Berlin
portrait
Der Zwilling
S.K.B.

Gewebe: vom Gebundenen und seinen Freiheiten

Netzwerk: bei dem Wort fällt mir zunächst Prosaisches ein: Meine Schulzeit in meinem 15. Lebensjahr, als an der Schule - versuchsweise - auch für die Jungs, zusammen mit den Mädchen Handarbeitsunterricht vorgesehen war. Für uns bedeutete er ein bisschen Flirten, aber auch die Schmach, die mit Stricken, Nähen und Häkeln assoziiert war. Ich rettete mich in das Knüpfen einer Hängematte, das ich soweit ausdehnte, dass ich das ganze Jahr damit abdecken konnte. Im Tohuwabohu der Werkstatt kam es immer wieder zu Irrungen und Verwirrungen vieler Art auch in der Hängematte, die durch Auftrennen, zusätzliche Knoten und „falsche“ Verbindungen „bereinigt“ wurden; das Netz wurde in den notorisch ungewaschenen Buben-händen immer schwärzer und unansehnlicher, doch trotz aller Fehler war am Ende des Jahres etwas da, das trug, in dem ich schaukeln konnte, lesen, träumen, schlafen und anderes mehr, und das graue verhedderte Endprodukt vergrub ich später rasch im Chaos meines Elternhauses. Erst nach dem Tode meiner Mutter wurde es bei der Auflösung des Haushalt nebst tausend anderen Dingen wieder an die Oberfläche gespült:eine seltsames Zeugnis der Unterwerfung und auch des Eigenwillens. Nun war es Patina aus einer vergangenen Zeit - ein Stück von vergangenem Leben, als alles ungewiss, ziellos, aber auch bedeutsam war.

Nach der Hängemattenzeit war eigentlich die Kindheit zu Ende: ich kam in Internate in Niederbayern, danach wurde ich Kostgänger eines tauben Kesselschmieds, dann eine weitere Öffnung des Lebens mit einem vielfach unterbrochenen Studium, das Leben in einem Abrisshaus, Hilfsarbeiten aller Art, aber auch ein feuchtfröhliches Bohème-Leben, lange Nächte tiefschürfender, schriftstellerischer Versuche nach Manier von Herrmann Hesses Steppenwolf, Aufenthalte in Paris, Reisen nach Libyen, nach Ägypten, bis hinunter nach Äthiopien.
Netze gab es reichlich, sie glänzten in der Sonne; mehr Schein als Sein, - rissen rasch; immer weiter weg ging die Suche nach dem „Anderswo“ - eine Zeit des „Verrückt“-Seins, die wohl in einem Nichts hätte enden können. Aber es kam anders: ein Stipendium nach Haiti, wo ich unter einem Mangobaum im Innenhof einer alten Bibliothek in eine vergessene Welt von Büchern tauchte, während vor den Toren Armut und Diktatur blutige Ernte hielten. Zwei Jahre später war da eine Dissertation und eine wissenschaftliche Karriere, die eigentlich keine war - so abseitig waren das Land und das Thema. Es war eine „Nische“, aber, endlich, auch wieder die Grundla-ge von Netzen, die nun trugen. Spezialisten und Sonderlinge aus anderen Nischen kamen dazu. Und so entstand ein wahrhaft weltumspannendes verschworenes Netzwerk, das exotisch war, das Abseitiges wie Gewöhnliches gleichermaßen enthielt: wochen- und monatelange Reisen, aber auch Reputierliches wie einen Beruf, eine Frau, Kinder, Heimat, Wohnbesitz: Wenn ich jetzt, älter geworden, zurückblicke, staune ich, dass manche Fäden der Unachtsamkeit zum Trotz widerstanden, dass die feinen Gespinste trotz Schäden über viele Jahre hinweg überlebten - Spinnweben am Rande eines Waldweges, unvermutet durch einen Lichtstrahl zum Glänzen gebracht, vielfach geflickte Fetzen, begleitet von losgelösten Fäden, die darauf warten, in neue Netze eingebunden zu werden - meist, aber nicht immer, nur Illusionen ohne Dauer und Tragfähigkeit.

So sind wir, liebe Silvia-Selvatica-Waldfrau! Gehören wir zu den „Webern“, sind wir Fäden eines größeren Stoffes, den wir wohl nicht kennen und möglicherweise nicht einmal erahnen werden? Nur Teil dieses gewaltigen Kleides, das irgendeine Gottheit trägt oder tragen wird - lebendig, ja, aber nur in seiner eigenen unbekannten Gesetzlichkeit? Eine tröstliche, doch manchmal erschreckende Vorstellung. Du magst es anders sehen, du bist ja - mit Freuden, mit Ängsten? - dieses unruhige Weberschiffchen, das mal hier, mal da, seine Fäden legt, sie verknotet, verheddert, reißen lässt - und schon weiter an anderer Stelle webt, ohne zurückzuschauen - oder doch? Gehöre ich auch zu dieser Gattung der „Weber“, obwohl ich in den früheren Zeiten, als die die Welt, die Möglichkeiten und meine Neugier unendlich erschienen, diese Vorstellung als unerträglich gefunden hätte? Doch wenn ich heute zurückblicke, dann zeigt sich, dass jedes Fädchen, ob lose oder fest verankert, seine Bedeutung hatte und hat, und dass dieses wie zufällig gewachsene Netzwerk eine Bedeutung hat - die des Lebens selbst, das sich trotz der subjektiven Freiheit und des Drangs zum „Anderswo“, aus vielen willkürlichen Teilstücken seine eigene Ordnung schafft - wenn man ein Quentchen Glück hat, und das hat mir nie ganz gefehlt.

 

Biografie Ulrich Fleischmann, geboren am 20. 6. 1938 in Rothenburg o.T., war Professor am Lateinamerika-Institut der Freien Universität Berlin mit dem Schwerpunkt Karibistik und Kreolistik, lange Studienaufenthalte in Haiti und Nigeria, Gastprofessuren in Rio de Janeiro, Mexiko und Costa Rica, lange Reisen in Lateinamerika, Afrika und in den USA, Verfasser und Herausgeber von mehr als 100 wissenschaftlichen Artikeln, Büchern und Reiseliteratur über die Karibik, Mittelamerika, den Indischen Ozean und die Iberische Halbinsel.