Der Zwilling
Gewebe: vom Gebundenen und seinen Freiheiten
Netzwerk: bei dem Wort fällt mir zunächst Prosaisches ein: Meine Schulzeit in meinem 15. Lebensjahr, als an der Schule - versuchsweise - auch für die Jungs, zusammen mit den Mädchen Handarbeitsunterricht vorgesehen war. Für uns bedeutete er ein bisschen Flirten, aber auch die Schmach, die mit Stricken, Nähen und Häkeln assoziiert war. Ich rettete mich in das Knüpfen einer Hängematte, das ich soweit ausdehnte, dass ich das ganze Jahr damit abdecken konnte. Im Tohuwabohu der Werkstatt kam es immer wieder zu Irrungen und Verwirrungen vieler Art auch in der Hängematte, die durch Auftrennen, zusätzliche Knoten und „falsche“ Verbindungen „bereinigt“ wurden; das Netz wurde in den notorisch ungewaschenen Buben-händen immer schwärzer und unansehnlicher, doch trotz aller Fehler war am Ende des Jahres etwas da, das trug, in dem ich schaukeln konnte, lesen, träumen, schlafen und anderes mehr, und das graue verhedderte Endprodukt vergrub ich später rasch im Chaos meines Elternhauses. Erst nach dem Tode meiner Mutter wurde es bei der Auflösung des Haushalt nebst tausend anderen Dingen wieder an die Oberfläche gespült:eine seltsames Zeugnis der Unterwerfung und auch des Eigenwillens. Nun war es Patina aus einer vergangenen Zeit - ein Stück von vergangenem Leben, als alles ungewiss, ziellos, aber auch bedeutsam war.
Nach der Hängemattenzeit war eigentlich die Kindheit zu Ende: ich kam in
Internate in Niederbayern, danach wurde ich Kostgänger eines tauben Kesselschmieds,
dann eine weitere Öffnung des Lebens mit einem vielfach unterbrochenen
Studium, das Leben in einem Abrisshaus, Hilfsarbeiten aller Art, aber
auch ein feuchtfröhliches Bohème-Leben, lange Nächte tiefschürfender, schriftstellerischer
Versuche nach Manier von Herrmann Hesses Steppenwolf, Aufenthalte
in Paris, Reisen nach Libyen, nach Ägypten, bis hinunter nach Äthiopien.
Netze gab es reichlich, sie glänzten in der Sonne; mehr Schein als Sein,
- rissen rasch; immer weiter weg ging die Suche nach dem „Anderswo“ - eine
Zeit des „Verrückt“-Seins, die wohl in einem Nichts hätte enden können. Aber
es kam anders: ein Stipendium nach Haiti, wo ich unter einem Mangobaum im
Innenhof einer alten Bibliothek in eine vergessene Welt von Büchern tauchte,
während vor den Toren Armut und Diktatur blutige Ernte hielten. Zwei Jahre
später war da eine Dissertation und eine wissenschaftliche Karriere, die eigentlich
keine war - so abseitig waren das Land und das Thema. Es war eine
„Nische“, aber, endlich, auch wieder die Grundla-ge von Netzen, die nun trugen.
Spezialisten und Sonderlinge aus anderen Nischen kamen dazu. Und so entstand
ein wahrhaft weltumspannendes verschworenes Netzwerk, das exotisch
war, das Abseitiges wie Gewöhnliches gleichermaßen enthielt: wochen- und
monatelange Reisen, aber auch Reputierliches wie einen Beruf, eine Frau,
Kinder, Heimat, Wohnbesitz: Wenn ich jetzt, älter geworden, zurückblicke,
staune ich, dass manche Fäden der Unachtsamkeit zum Trotz widerstanden,
dass die feinen Gespinste trotz Schäden über viele Jahre hinweg überlebten -
Spinnweben am Rande eines Waldweges, unvermutet durch einen Lichtstrahl
zum Glänzen gebracht, vielfach geflickte Fetzen, begleitet von losgelösten
Fäden, die darauf warten, in neue Netze eingebunden zu werden - meist, aber
nicht immer, nur Illusionen ohne Dauer und Tragfähigkeit.
So sind wir, liebe Silvia-Selvatica-Waldfrau! Gehören wir zu den „Webern“, sind wir Fäden eines größeren Stoffes, den wir wohl nicht kennen und möglicherweise nicht einmal erahnen werden? Nur Teil dieses gewaltigen Kleides, das irgendeine Gottheit trägt oder tragen wird - lebendig, ja, aber nur in seiner eigenen unbekannten Gesetzlichkeit? Eine tröstliche, doch manchmal erschreckende Vorstellung. Du magst es anders sehen, du bist ja - mit Freuden, mit Ängsten? - dieses unruhige Weberschiffchen, das mal hier, mal da, seine Fäden legt, sie verknotet, verheddert, reißen lässt - und schon weiter an anderer Stelle webt, ohne zurückzuschauen - oder doch? Gehöre ich auch zu dieser Gattung der „Weber“, obwohl ich in den früheren Zeiten, als die die Welt, die Möglichkeiten und meine Neugier unendlich erschienen, diese Vorstellung als unerträglich gefunden hätte? Doch wenn ich heute zurückblicke, dann zeigt sich, dass jedes Fädchen, ob lose oder fest verankert, seine Bedeutung hatte und hat, und dass dieses wie zufällig gewachsene Netzwerk eine Bedeutung hat - die des Lebens selbst, das sich trotz der subjektiven Freiheit und des Drangs zum „Anderswo“, aus vielen willkürlichen Teilstücken seine eigene Ordnung schafft - wenn man ein Quentchen Glück hat, und das hat mir nie ganz gefehlt.