Familien-Bande sind das Thema der aktuellen Ausgabe von „konkursbuch“ Nr. 48. Ein schönes, ein buntes, ein uferloses Thema. Die Sehnsucht scheint noch immer die nach einer glücklichen Dreiheit aus Mutter-Vater-Kind zu sein, das zeigten die vielen Menschen, die wir bei der Coverauswahl fragten und die aufgrund des assoziierten Glücks dieses Cover mit auswählten. Auf dem Rückumschlag schon und natürlich im Inhalt des Buchs vervielfältigt sich das Bild in ein Web-Werk buntester Familienbandenvariationen.
Als ich fertig war mit diesem Buch und es gerade für das Layout in Kapitel strukturierte, von Rasselbanden über viele bunte kleine und größere Familien zu Familienhorror, Familienfesten, Tanten, Generationen, Wahlverwandtschaften, Familien-Arbeit, Familienbetrieben, Familienbanden usw. kam, die Einladung, an Silvia Breitwiesers Web-Werk mitzuwirken. Zunächst wollte ich umgekehrt ihr Web-Werk noch in die Familien-Bande integrieren, aber ich schaffte es nicht mehr. So versuche ich, in diesem kleinen Beitrag beide Themen miteinander zu verbandeln. Familienbande: waren für mich auf den ersten Blick ein Blick zurück - in die Kindheit, auch in spätere Zeiten, zurück bis vor Kurzem, ein Blick zu meiner Mutter. Mit der Mutter, die vor einem guten Jahr gestorben ist, rede ich immer noch in Gedanken, auch der Vater, der ganz kurz vor meiner Mutter gestorben war, ist sehr lebendig in mir. Ich sehe sein ironisches Lachen. Seine Berliner Ironie, die zur Romantik werden konnte, und sich dort mit der Gedankenwelt meiner Mutter treffen konnte, so verschieden die beiden auch waren. Spätestens im Unendlichen haben sie sich getroffen und werden vielleicht auch mich wiedertreffen. Was Reden betrifft, sind Väter abwesender. Ich rede also mit meiner Mutter.
Für mich ist die Bindung an sie eins der stärksten möglichen Familienbande. Familienbande dachte ich mir also zuerst in die Vergangenheit - oder auch in die Zukunft hinein, wenn man Kinder hat, ich habe keine und denke sie in die Zukunft meiner Nichten und Neffen. Manche malen Stammbäume, meist ausgehend von Urvätern, seltener von Urmüttern samt PartnerInnen und anschließenden Verzweigungen, das Ganz natürlich unendlich, je weiter man versucht zurückzugehen. Denn was definiert sich als das erste Paar einer Familienbandenlinie?
Familienbande empfinde ich vor allem denjenigen gegenüber, mit denen ich im Leben verbunden bin. So gehören zu den Familienbanden natürlich die Wahlfamilien, in denen man sein Leben verbringt. Und diese breiten sich nicht nur nach früher und später, in die Zeiten hinein, aus, sondern eher auf einer Ebene, in meine Lebenszeit, wie ein großes Stück verwobenen Stoffes, das ich mir trotz horizontaler und vertikaler Fäden eher ausgebreitet denke, in einem Raum wehend und weniger in der Zeit. Meine Lebens-Wahlfamilie ist eng an den Verlag geknüpft, viele Autorinnen sind Freundinnen. Und diese Wahlfamilie berührt das Gewebe, das Web-Werk. Gewebe ist nicht genau dasselbe wie die Familienbande. Ich sehe Silvia Klara Breitwiesers Web-Werk als Steinkunstwerk vor mir, als Stoff, der aus vielen verwobenen Fäden besteht, in einem Moment der Bewegung - Stoff ist für mich immer etwas Bewegtes, im Wind Wehendes - und diese leichte wehende Stofflichkeit in Stein festgehalten, ein filigranes schönes Kunstwerk, das mir heute wie zu dem Zeitpunkt, als ich das erste Mal eins davon sah, lebendig vor Augen steht. Wieder an Menschen gedacht, bewegt sich mein Wahlfamiliengewebe mit einigen Anknüpfungspunkten ins große Breitwieser-Gewebe.
Denkt man bei Familienbande also vor allem an die, zu denen man wirklich Verbindung hat, und nicht an die unendliche Ahnengeschichte, dann sind meine Familienbande einiges kleiner als dieses Wahlverwandtschaftsgewebe hier auf dieser Ausstellung mit seinen hundert Teilnehmern, die wiederum nur eine Auswahl sind aus den möglichen Teilnehmern. Es sei denn, man hat, wie eine libanesisch-deutsche Autorin aus dem Familienbande-Konkursbuch, auch arabische Bande. Die unterscheiden sich von ihrer deutschen in ihrer riesigen Größe, 100 Cousins und Cousinen sind keine Seltenheit.
Ähnlich wie die Genealogie der Verwandtschaft nicht wirklich in der Narration wiedergegeben werden kann, geht es mir mit dem Gewebe, aus dem das hier vorgestellte Web-Werk kommt. Wen lernte ich wann und wo kennen durch seine Arbeiten, mit wem habe ich wirkliche Berührungen, und mit wem verbinden sich Wahlfamilienbande, welche Gespräche führten wir miteinander, welche Verknüpfungen ergaben sich daraus? Einfach ist es nicht mit der Orientierung in Familien-Banden oder Geweben. Schon wenn einem die Mutter etwas über die Verwandtschaft erzählt, kann sich die Bezeichnung je nach Erzählzusammenhang ändern: die Schwester der Urgroßmutter wird das nächste Mal, wenn von ihr gesprochen wird, zur Tante und so weiter. Gerne drängen sich die Ahnen ein wenig nach vorne, machen sich schnell mal eine Generation jünger, und im Gewebe der Wahlverwandtschaft rücken sie näher heran, wenn sie in Erzählungen auftauchen ... manche sogar dann, wenn man ihnen noch nie wirklich begegnet ist.
Früher nannte man deshalb alle in Verwandtschaftsbanden „Vetter“ oder „Base“, auch wenn es sich um die Enkelkinder von Geschwistern der Urgroßmütter handelte. Schon in den antiken Mythen geht es durcheinander, unterschiedlich erzählen sie, welcher der vielen griechischen Götter wie mit welchen anderen verwandt sei ...
Ohne die Familien-Bande und ohne das Wahlverwandtschaftsgewebe wäre ich nicht. Es ist unmöglich, sich zu denken ohne Familie.
In unserem Familien-Bande-Buch kommen viele Perspektiven vor, auch solche, die ablehnen, was Familie mit der Individualität der Kinder macht. Aber wie ginge es ohne? Ohne dass Eltern versuchen, ihren Kindern etwas vom Eigenen mitzugeben? Wahrscheinlich kommt es wie bei allem auf die Dosis an. Zuviel ist Gift, bei zu kleiner Dosis wird man krank.
Unsere Mutter hat seit ihrer Kindheit, in der sie teilweise zu Gast in einer großer Familie entfernter Cousinen aufwuchs, Offenheit gelebt. Wichtig scheint, dass Familiengrenzen, welchen Familientyps auch immer, offen sind. Wichtig ist, dass Familien „Fremde“ aufnehmen und „Eigene“ ziehen lassen. Dass der Verbund immer in Bewegung ist und nicht an einem einmal festgelegten oder durch Tradition vorgegebenen Konzept der engen Grenzen festhält, derer eigenen Gesetze gelten, innerhalb und nichts hin- ein-oder hinausscheinen lässt. Doch auch hier ist das Gegenteil - gar keine Grenzen, gar keine Familienregeln, bzw. Rituale -nicht richtig. Denn dass etwas von der Familien-Tradition, etwas von den Familienritualen bleibt und sich nicht alles im Nichts verliert, ist ebenso wichtig. Auch wenn uns Verwandtschaftsbesuche in der Kindheit vielleicht geärgert oder gelangweilt haben. Auch wenn das tägliche gemeinsame Essen oder der gemeinsame Sonntagsspaziergang und die Spielenachmittage und die Verlegertreffen und Autorinnenessen und philosophische Kongresse nie genauso verlaufen wie erträumt: Das Verbindende und auch Warmherzige - selbst wenn es Streit gibt dabei - solche regelmäßigen und ein wenig ritualisierten Begegnungen, auch wenn sie heute bei den vielen Ein-Personen-Haushalten meist nicht mehr im täglichen gemeinsamen Essen liegen können, hält uns doch ein wenig fern vom bindungslosen kalte Nichts, in das wir nur allzu leicht fallen. Sei es in Form einer Depression, eines Burn-Outs.
Und in diesem Sinne freue ich mich, am Gewebe der Menschen meines Verlegerinnen-Lebens und ihrer Verbindungen in diesem hier zusammentreffenden Kreis teilhaben zu können und - abwesend, aber doch durch meine Zeilen anwesend - bei diesem Ritus des Web-Werk- Fests dabeizusein.
Hermann Treusch liest aus dem Text Claudia Gehrkes
Ausstellung + Webwerker-Fest 2009
Atelierhaus Neue Panzerhalle, Potsdam-Groß Glienicke