Heimatfäden
Wäre der Kitt, der unsere Gesellschaft zusammenhält, nicht Engagement, Wissen, Entwicklung, sondern das Netzwerk? Wäre ein Netzwerk jenes, dass die falschen Gedanken zur richtigen Zeit auffängt, sie in seinen Maschen versteckt, behütet und beschützt? Dann wäre das Netwerk etwas wie eine Familie, die nachsichtig ist, Löcher stopft, während sich naturgemäß andere Löcher wieder öffnen und neue Menschen zu ihr stoßen oder verschwinden.
Eine Familie, die sich ständig erweitert wie ein Schwarm. Exemplarisch und biografisch geprägt. Denn welcher Schriftsteller, Autor könnte umhin, seine ureigensten Familiengeschicke zu sezieren, umzudrehen und zu spiegeln? Was ist uns Familie heute - was war sie früher? In Zeiten als sie mal Bolschewiken, dann Zaren, Adelsgeschlechter, Kaufleute oder anständige Handwerker innehatte?
Und was mag sie heute sein? Zuerst ein globales Gefühl - man glaubt als Weltenbürger, die Familie sei überall. Eine zeitlang zumindest. Dann spürt man, dass das überall austauschbar ist und besinnt sich auf Stellen, an denen die eigenen Wurzeln zu finden sind. Unser eingravierter Garten Eden, die Karte der eigenen Biografie. Ein Stammbaum, groß und beständig wie eine alte Eiche, in die wir unsere Jahresringe ritzen können und Spuren hinterlassen. Symbole in einer an Zeichen und Wegen arm gewordenen Cyberwelt.
Eine Web-Welt, die ohne Städte nicht existieren könnte. Noch nie haben so viele Menschen in Metropolen gelebt wie derzeit, die Megacities wachsen und explodieren - und sie hinterlassen eine ganze Garde von Heimatlosen, von Zugezogenen, Entwurzelten und Arbeits-Immigranten.
Diese Megacities, die ihr Wachstum den Finanzen verdanken, ersticken derzeit daran. Die Wirtschaftskrise lässt Baustellen verwaisen, hinterlässt Geistermalls und leere Schreibtische. Stadt fordert Tribut und sucht nach Lösung. Netzwerke? Netzwerke! Den Laptop zumachen, die emails vergessen, die Hände in die Erde stecken und neue Sehnsucht wachsen lassen. Nach Orten, kleinen Paradiesen, in denen manches geordnet und vieles überschaubar ist. Wo die Vögel schmettern, die Luft nach frisch gemähtem Gras und Apfelblüten riecht. Das Revival der Blauen Stunde; die Sehnsucht nach einem Netz, das uns auffängt. Ob Menschen, Landschaften, Orte.
So wie die niederrheinische Peripherie, die an meinem Zugfenster vorbeizieht. Pappel- reihen, Flussläufe, schwarz-weiß-gescheckte Kühe, das erhabene Schloss Moyland, Kirchturmspitzen und Spargelfelder. Eine Landschaft, die Heinrich Heine beflügelte, Josef Beuys oder Hans Dieter Hüsch prägte. Warum? Weil sie ein Netzwerk ist; moderner als es jedes andere sein könnte. Ein Netzwerk der Verbundenheit, der Wurzeln, des inneren Geflechts.
Sie ist Heimat für unsere Familie. Für Silvia, für meine Mutter und auch für mich. Geburtsland, Inspirationsland, Pilgerland. Ein Netz der Möglichkeiten und manchmal auch der Unmöglichkeiten. Ein Stück Nähe, das bleibt, wenn unsere Cyberwelten implodieren oder es uns in die Ferne zieht. Auf der Suche nach Spuren - oder nach uns selbst. Quer durch die Welt - oder beim Schritt vor die eigene Tür.
Inken Herzig auf der Transitstrecke Köln / Amsterdam, Mai 2009