Philosophie

Rudolf zur Lippe | Berlin
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Buchvorstellung im Radialsystem V, Berlin
links Dr. Lukas Trabert (Alber Verlag), Freiburg/Breisgau
rechts Prof. Dr. Ryosuke Ohashi, Kyoto
© S.K.B.
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Das Gewebe in zentralperspektivischen Gesellschaften*

Zentralperspektive ist eine Zeichentechnik, die in der Ära des Humanismus eine große Faszination ausübte und seit der Renaissance in der künstlerischen wie auch der technischen Darstellung von dem, was wir sehen, vorherrscht. Seit dem 17. und 18. Jahrhundert formt das Prinzip einer zentralen Achse nicht nur die Sichtweise der Welt der westlichen Kulturen; es wird auch in der vom Menschen hergestellten Umgebung umgesetzt. Das Modell der Darstellung, das als die richtige Wiedergabe der menschlichen Wahrnehmung betrachtet wird, wird in zunehmendem Maße auf die Realität selbst angewandt. Im ausgehenden 20. Jahrhundert werden wir in allen Bereichen mit der Zentralperspektive konfrontiert: Die Erstellung urbaner Topographie kontrastiert nicht länger mit einer Geographie, die linker und rechter Hand um riesige dominierende Autobahnen und gigantische Kreuzungen arrangiert zu sein scheint.
Zusammen mit der Geometrisierung der Welt um uns herum wird die anthropologische Tendenz der Sicht, über die anderen Sinne zu dominieren, in Richtung eines schon jetzt ausschließlichen Prinzips für die Wahrnehmung entwickelt. Das Konzept der wahrnehmbaren Realität ist ein visuelles, bis zu dem Punkt, an dem das, was visualisiert werden kann, real wird: zur virtuellen Realität.
In dieser Entwicklung mache ich mir Gedanken über den Zusammenhang von menschlichem Weben und von Spinnennetzen. Alle beide zeigen sicherlich eine unterschiedliche Haltung gegenüber dem Rasternetz. Sie nehmen Raum nicht im Abstrakten wahr; um dann eine konstruierte Figur in oder auf eine materielle Realität zu projizieren. Raum ist in der Tat die Grundkategorie des Webens, ob es sich nun um das Weben eines Stoffes oder das eines Netzes handelt. Und es ist Raum in sich selbst, nicht als eine Applikation eines abstrakten, visuellen Konzeptes. Das ist wahr, auch wenn der Webkünstler vor und während der Herstellung eine Vorstellung hat, wie das Gewebe werden sollte. Raum ist ein beim Weben ein auftauchendes Paradigma. Der Raum taucht auf aus dem Tun selber.

Auch heute noch prüfen wir ein Stück Stoff, indem wir es zwischen zwei Fingern fühlen. Dies ist die richtige Art, denn es ruft die Geste des Webens hervor, die in noch größerem Maße in haptischen Tugenden begründet ist. Die webenden Hände und vielleicht besonders die spinnenden Hände erschaffen mit ihrer Fähigkeit etwas zu erfühlen, was sie berühren. Sie lassen ihr Gefühl in die Strukturen einfließen. Aus diesen Gesten tritt Raum hervor. Raum erwächst aus einer sehr begrenzten, sehr bestimmten Stelle in unmittelbarem Austausch mit der webenden Frau oder dem webenden Mann. Die Spitzentechnik ist als Metapher für Raum, der aus der menschlichen Geste im Leben und einem bestimmten Punkt an der Erde erwächst, noch viel offenkundiger. Eine kleine Stelle auf einem Kissen wird zum Mittelpunkt von allem, während die Textur um sie herum ins Leben tritt. Der Faden ist keine Linie. Er ist nicht zweidimensional. Wo immer er dazu gebracht wird, sich selbst zu berühren, verschlingen sich zahllose flauschige kleine Haare von der einen wie der anderen Seite. Es kommt etwas Neues, etwas Ganzes zum Vorschein, das zerstört wird, wenn wir es auseinander ziehen.

Raum kommt natürlich in der Zeit zum Vorschein. Wie aller realer, gelebter Raum ist dieser Raum ein zeitlicher. Ein Gewebe, ein Stück Stoff oder Spitze kommt im Nacheinander durch immer wiederholte und mit einander wechselnde Gesten zustande. Zeit materialisiert sich wie in einem wachsenden Organismus. Auf der ganzen Welt richtet sich das Weben nach einer von zwei möglichen Orientierungen aus. Im Widerspiel mit der Schwerkraft der Erde, wie alles Lebendige. Die Fäden der Kette hängen von einem Stock herunter; sie werden von Steinen, die an ihrem Ende befestigt sind, geradegezogen. Oder sie werden zwischen zwei Stöcken, die jeweils an zwei Pfählen befestigt sind, aufgespannt. Die eine Orientierung verläuft vertikal; das Gewebe entsteht zwischen Himmel und Erde. Die andere verläuft horizontal, Himmel und Erde wiederholend, fast wie die Projizierung der vier Himmelsrichtungen auf die Basis der Geschichte, wie sie in der Struktur der Anlage von Rom und anderen Städten des Mittelmeers hervortritt.
Diese technischen Umstände fallen auf die eine oder andere Weise mit der Kosmologie zusammen. Weben wird an kosmologischer Orientierung ausgerichtet oder drückt kosmologisches Bewusstsein aus. Das menschliche Bewusstsein der Lebensumstände traditioneller Kulturen verwirklicht, vielleicht, diese beiden Beziehungen bei der Herstellung von Stoff. Während Stoff die einfachsten praktischen Grundbedürfnisse sichert, hat seine Herstellung eine rituelle Seite, genau wie Muster, Bedeutung und die bloße Existenz des Stoffes sie oftmals haben. Denken wir nur an die Anwesenheit der Vorfahren, die in Tüchern der Dogon-Gesellschaften beschworen wird, oder an das Tuch, das griechische Frauen gewebt haben sollen, während die Krieger für ihr Vaterland in den Kampf zogen, wie wir es von Penelope kennen.

Zusammen mit solch einer Beziehung beschenken uns die Herstellung von Stoff, das Weben und alle verwandten Techniken mit einem Einklang von techne, poiesis und mimesis. Alle drei Aspekte der aristotelischen Philosophie vom menschlichen Handeln sind hier miteinander verbunden. Die Tatsache, dass sie in einfachem, alltäglichem, regelmäßigem Tun vereint sind, schließt die Handlung nicht von dem religiösen Kontext aus. Im Gegenteil, die Abspaltung täglicher Handlungen und Gerätschaften von der heiligen Interpretation der Welt wurde erst von den großen monotheistischen Religionen erfunden. Sie sind so auf einen abstrakten außer-weltlichen Gott und seine abstrakte metaphysische Ordnung zentriert, dass sie zu erhaben sind, um etwas mit weltlichen Dingen gemein zu haben; zumindest ist es das, was ihre Dogmen behaupten.

In den westlichen Kulturen hat die scholastische Theologie schon im 11., 12., 13. und den darauf folgenden Jahrhunderten den Prozess der Rationalisierung von Religion betrieben. Die Tragödie des Projekts der Modernisierung ist, scheint mir, dass die Ära der Aufklärung, obwohl sie gegen die Kirchen rebellierte, diese Haltung der Abstrahierung weitergeführt hat. Je abstrakter eine Interpretation der Welt ist, umso stärker wird sie für rational gehalten. Kosmologie wurde nicht für würdig genug befunden, um Teil einer monotheistischen Religion zu sein, die die Rationalisierung absolut wurde, war Gott keine würdige Erklärung mehr für ein klares und präzises Verständnis der Welt. Das Prinzip des Monotheismus wurde noch vorherrschender - jetzt als Monotheismus ohne Gott Interpretation von exaktem Wissen trat dieses an die Stelle der Exegese.
Zur gleichen Zeit wurde eigenes Tun zunehmend als primitive Haltung zur Befriedigung menschlicher Bedürfnisse angesehen. Gewitztheit lehrte uns, wie wir Dinge anders erledigt bekommen, zuerst durch Sklaven, dann durch Maschinen.
So finden sich die textilen Künste von jeglichem kulturellen Kontext abgeschnitten. Sie spielen im kulturellen Verstehen der Welt keine Rolle, und sie sind zu primitiven Überresten von entfernten Zivilisationen geworden, was ihren Beitrag zur materiellen Produktion anbelangt.
Glücklicherweise ist zur Rettung des Überflüssigen immer noch eine Dimension in der modernen, weltlichen Gesellschaft übrig geblieben: Kunst. Kunst ist das Asyl für die Armen und Verfolgten. Aber die Kunst hat ihren eigenen Stolz aufgebaut und verteidigt ihre relative, nach Souveränität strebende Autonomie mit hilflosem Stolz.

Und Souveränität wird durch den Anspruch auf ein klar umschriebenes Territorium konstituiert.. Kunst dient nicht religiösen Überzeugungen, und sie dient auch nichtt praktischen Bedürfnissen. Textile Künste wurde solches Handwerk vielleicht noch in der Ära von Diderots und d'Alamberts „Enzyklopädie der Künste und des Handwerks" genannt. Aber auch Kunst sollte nicht länger mit der praktischen Kunst in der Geschichte verwechselt werden. So ist die Domäne der Kunst ein fragwürdiges Asyl für die Versuche, die Bedeutung von Stoff und seiner Herstellung zu erinnern, die einmal ein möglicher Zugang zu der Bedeutung der Welt und des menschlichen Lebens in Beziehung zu der Welt mit uns gewesen ist?
Viele Erfahrungen von der Jahrhundertwende bis heute illustrieren die daraus resultierende Doppeldeutigkeit. Handwerkskünste, die nach dem Prätentiösen der Kunst streben, da der Bereich des Nützlichen von der industriellen Produktion belegt ist. Aber nutzlos zu sein reicht nicht aus, um zur Kunst gezählt zu werden. Die Autonomie der Kunst muss erlangt werden durch den immer aufs neue zu beginnenden Versuch, auf zu menschlichen Einstellungen gegenüber der Welt mit uns, und auf der Begegnung mit uns selbst, zu beharren, wir, die wir aus der gesellschaftlichen Praxis vertrieben sind. Die ökonomische Erledigung von praktischen Aufgaben und die hierarchische Aufteilung von Arbeit haben mechanische und quantitative Paradigmen vorangetrieben, unter denen menschliche Arbeit grundsätzlich unzulänglich zu sein scheint. Und dies ist nur so, weil Arbeit nicht mehr als Verstehen durch Tun und Verstehen der Beziehungen, in denen wir leben, angesehen wird. Diese Beziehungen sind im modernen industrialisierten Leben in viel geringerem Maße offensichtlich. So fühlen offenbar sogar viele Künstler, dass die Verteidigung grundlegender menschlicher Tätigkeiten, zusammen mit einem kultivierten Bewusstsein für die dramatischen Veränderungen in unserem Leben, Gefahr läuft, überflüssig zu erscheinen.

Diese wenigen Linien vermögen vielleicht einen Umriss des historischen Bodens und Hintergrunds zu zeichnen. Ich meine, dass sie schon einige grundlegende Schwierigkeiten in der Gründung der Textilwissenschaft sichtbar machen. Das Wissen über die Herstellung von Stoff, Spitze, Stickerei, Teppichen und Ähnlichem kann in drei Dimensionen interessant sein: Wie wird es gemacht und wofür? Wer machte es wann und warum und wo? Und, vor allem, welche Bedeutung wird ihnen allen im Kontext einer Kultur gegeben?

Die erste Frage ist traditionellerweise Teil der Handwerkskünste selbst. Weben zu lernen, ist eine Sache der Erfahrung. Ihr Paradigma ist eine Frage der Gestik. Ihre Inspiration ist die Mimesis. Dank Polanyi hat eine kürzlich erfolgte Verschiebung in der wissenschaftlichen Haltung die Idee vom „stillschweigenden Wissen" hervorgebracht, was sehr nett ist, aber nicht von einer hohen Wertschätzung zeugt. Und es erzeugt nicht, und dies ist die Hauptsache, ein sehr differenziertes Bewusstsein von diesem Wissen im anthropologischen Zusammenhang. Ich schlage vor, von ihm eher in Termini wie „gestisches Wissen" zu sprechen, Wissen, das nicht von der existenziellen Erfahrung des Vollzuges getrennt werden kann. Es kann weder verbal erklärt noch theoretisch rekonstruiert werden, genauso wenig wie die Kunst, die Schnürbänder unserer Schuhe zuzubinden.

Die zweite Frage ist seit der Erfindung der Ethnologie in festen Händen: Obwohl manchmal versucht wird, das Unerkennbare anzuerkennen, finden andere Ethnologen es schwierig, ihre eigenen Muster nicht als Werte auf anderere Kulturen zu projizieren. Sofern die Ethnologie nicht auf die seltsamen Prinzipien des Behaviorismus schwört, so gibt es andere Schulen und Methoden, das Material der Feldforschung unter gefasste moderne Theorien zu bringen. Zusammenhänge traditionellen Lebens entkommen selten der einen oder anderen Strategie der Durchtrennung. Für theoretische Interpretationen wird der kulturelle Zusammenhang immer wieder aufgetrennt. Oft zollt versteckter oder offener Universalismus den Prinzipien der Zentralperspektive den gebührenden Tribut wissenschaftlichen Arbeitens. Es bleibt das Verdienst der großen Strukturalisten, auf rein vergleichenden Studien im Bereich nicht-westlicher, nicht-dualistischer Kulturen zu beharren. Aber dieser immense Vorteil wurde gewonnen, in dem es bei reiner Beobachtung der Strukturen, unter Abstrahierung von der Geschichte und Mit-Geschichte (co-history), um die es sich dreht, bleibt.

Die dritte Frage bleibt im Schatten der Ideologie von entwickelten Gesellschaften. Was nicht zu den kausalistischen Erklärungen und der Charta der anthropologischen Ziele passt, gerät in der Regel aus dem Blickwinkel. Wenn sie ausnahmsweise mal auf die Bühne gebracht wird, verwandelt das Licht unserer Projektoren sie in bloße Gespenster.
Wissenschaftliche Annäherungen an die textilen Künste und Kunstgewerbe sind folglich in einer sehr schwierigen Situation. Eine wissenschaftliche Wertschätzung der Herstellung von Stoff, Spitze, Teppichen, Stickerei und Ähnlichem muss die Erfahrung der Herstellung durchlaufen. Aber wie sollen wir uns einer entfernten oder vergessenen Technik widmen? Wie sollen wir ihre festen Beschränkungen und Regeln herausfinden? Wie in Mustern, denen man gehorchen muss und die aus weit entfernten Zusammenhängen stammen, kreativ sein? Wie bei der Herstellung kompetent sein, während man an der Bedeutung, die im Vergleich mit einem modernen Zusammenhang interpretiert werden sollte, interessiert ist? Wie nicht den Horizont von Fragen und Paradigmen aus dem Blick verlieren, während man sich gerade mit der Technik, die imitiert werden soll, beschäftigt? Wie eine angemessene Sensibilität für die implizierten Fragen und die metaphorische Bedeutung des ganzen Vorgangs entwickeln? Wie dann dieses persönliche Bewusstsein in Begriffe übersetzen, die man im Rahmen einer Forschungsarbeit erklären kann?
Diese wenigen methodologischen Fragen vermögen vielleicht in ausreichendem Maße den ganz bestimmten Stil der Unterschiede zu bezeichnen. Ähnliche Fragen werden durch jeden Interessenwechsel aufgeworfen, ob sich dieser nun auf Moden und Kleidungsgesten und ihre Rolle in einer kulturellen Interpretation des Lebens und der Welt bezieht oder die textilen Elemente der Wohnung, u.s.w..
Aber das Grundproblem reicht noch viel weiter. Textile Wissenschaften müssen für eine andere Rolle der Textilien in der Realität moderner Zivilisationen kämpfen, wenn sie mehr als ein kleiner Teil der Kunstgeschichte, Abteilung Handwerkskünste, sein wollen. Textile Wissenschaften müssen das, was Kunst und Kunsthandwerk vielleicht gemeinsam haben, wieder erfinden. Dies ist eine kreative Aufgabe, aber sie müssen die Forderung vermeiden, in den Nationalstaaten der Künste eingebürgert zu werden.
Sie dürfen aber auch nicht zum Geheimdienst der Handwerkskünste werden. Im Übrigen müssen sie der Lächerlichkeit entkommen, den Methoden und Kategorien und Paradigmen hinterherzurennen, die in der wissenschaftlichen Gemeinschaft gerade anerkannt werden. Denn diese müssen in der eigenen Betrachtung ihres eigenen Gegenstandes und Bereiches entstehen. Das Ergebnis muss dann aber den anderen Disziplinen eine solide Basis für vergleichende Betrachtungen bieten.

Wie stehen die Chancen, uns wissenschaftlich den textilen Fähigkeiten und Tugenden zu nähern? Ich sehe im Vordergrund eine ziemlich schwierige Aufgabe. Eine authentische Haltung kann sich nur aus einem antizyklischen Konzept entwickeln. Die spezifischen Schwierigkeiten entstehen aus den unterschiedlichen Dimensionen, die berücksichtigt werden müssen. Aber einige von ihnen benötigen eine mehr technisch-produktive Vorgehensweise als theoretische Analysen. Und wieder ist dieser Bereich anders als die praktischen Vorgehensweisen der Naturwissenschaften. Stoffe herzustellen oder Gesten von Männern oder Frauen in unterschiedlichen Kleidungsstilen zu beobachten, kann nicht mit Experimenten in der Physik oder Molekularbiologie verglichen werden. Zu erfahren, wie zu Penelopes Zeiten gewebt wurde oder was es heißt, einen Sari zu tragen, wird Teil des eigenen Lebens. Zusammen mit mimetischen Fähigkeiten und Talenten kommt eine andere Seinsweise ins Spiel. Dies ist der Unterschied zwischen Wahrnehmung und Beobachtung.

Warum wird dann soviel wissenschaftliches Aufleben darum gemacht? Aus Sicht der Handwerkskünste ist es in einem modernen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Zusammenhang nicht reine Praxis, die die Kontinuität des Wissens um das Tun und seine Bedeutung aufrecht erhält. Zusammen mit dem Mangel an Kontinuität durch Tradition, sind vielmehr auch die historischen Gründe für diesen Mangel und ähnliche Entwicklungen in anderen Sektoren der Zivilisation betroffen. Während Traditionen uns lehren können, durch Handeln nachzudenken, erlauben moderne Gesellschaften dies nicht ohne weitergehendes und analytisches Nachdenken. Wenn es sich bei dem Tun um die Einführung einer ansonsten vernachlässigten Art des Bewusstseins handelt, braucht selbst das Tun einen Raum, der frei ist von den Zwängen und der Dumpfheit, die im normalen Leben selbstverständlich sind. Hier strebt der wissenschaftliche Versuch, Freiraum zu schaffen, das gleiche Ziel an wie das künstlerische Schaffen. Aber der Künstler wird, als Künstler, Zeuge einer einmaligen Begegnung mit der Welt. Alles mögliche Befragen und Analysieren der Umstände wird zweitrangig, nebensächlich oder eher uninteressant, wenn eine Arbeit oder ein Prozess der Kunst entsteht. Kunst hat das Potenzial, eine ähnliche Erfahrung an und für sich hervorzurufen, und das setzt den Betrachter der Ansteckung aus. Kunst riskiert, zum Vermittler für den Impuls zu werden, uns für eine unerwartete Erfahrung des Lebens zu öffnen. Einen Raum für historisches Bewusstsein zu öffnen, ist eine andere Aufgabe, die genauso dringlich ist. Es muss verhindert werden, dass Anthropologie zu einer bloßen Legitimation zeitgenössischer „Realität" wird.

Diese sogenannte Realität wird vorwiegend von einer Dichotomie von Nachdenken und Handeln, von Wissen und Leben, von Planen und Ausführen, von Konzept und Anwendung und so fort beherrscht. Ein umfassenderes Bewusstsein der conditio humana hat nur da eine Chance, wo die in unserer Geschichte getrennten Ebenen und Mittel des Nachdenkens einander durchdringen können. Die Textilwissenschaften können und sollten bei diesem Projekt eine der Hauptrollen übernehmen. Die Bedeutung von Textilien und ihre Herstellung in der Geschichte der Kulturen der Welt deutet so viele und so potenziell überzeugende spezielle Beiträge an, dass hier einige Beispiele zu Wort kommen sollen.

Solche Erfahrungen aus dem Fluss der Geschichte vermögen nicht nur, die Wertschätzung der Disziplin zu fördern, die in unserem Panorama der Geisteswissenschaften eingerichtet werden soll. Sie vermögen nicht nur sie selbst zu unterstützen und unsere zeitgenössische Vorstellungskraft zu ermutigen. Sie vermögen genauso, unser Bewusstsein von Paradigmen und Kategorien anthropologischen Bewusstseins herauszufordern, die über die vom Behaviorismus errichteten Ebenen hinausgehen, das heißt, die alle Einsichten in die integrierenden Beziehungen des menschlichen Lebens, der gesellschaftlichen Praxis, hervorheben.

So werden wir vielleicht fähig sein, ein Netz von innen nach außen, im Rahmen von Zentralperspektiven, zu spinnen; neue Muster über die Raster digitaler Codes und Erkennung zu weben; ein Netz zu schaffen, das Modell und Metapher für den Geist des Gewebes ist, ein Netz zwischen dem Horizont von Möglichkeiten und dem tatsächlichen Hier und Jetzt des heutigen Lebens.

I. Muster nicht Achsen

Jean Gebser hat sich unsere europäische Geschichte als eine Reihe von Epochen vorgestellt, von denen er jede durch einen Grundgedanken charakterisiert. Nach diesem Konzept leben wir am Ende einer mentalen Epoche. Mein Verständnis eines zentralperspektivischen Prinzips fasst in gewisser Weise die Strategien der mentalen Epoche auf ihrem Höhepunkt zusammen. Ihr Anfang, der zwischen dem neunten und siebten Jahrhundert vor Christus liegt, fällt mit der Schaffung von Homers Olympischen Göttern, dann der Entstehung abstrakter Begriffe in der Philosophie, der Machtergreifung des Geldes und der Schaffung formalen Rechts in den städtischen Gesellschaften Griechenlands zusammen. So wie eine Epoche der Magie einer Epoche der Mythen gewichen sein soll, so ist die mythologische Epoche von der mentalen abgelöst worden.
Gebser hat eine wunderschöne Metapher geschaffen, um diesen letzten Wandel der Epochen zu symbolisieren. Der Kreis, als ein Bild mythologischen Kreislaufs der Zeit, so sagt er, wurde zerschnitten - eine offene Linie. Die Idee der linearen Zeit wurde zusammen mit dem Pfeil als vorherrschendem Bild für Zeit in der mentalen Epoche geschaffen - die Achse der Zentralperspektive ist vielleicht der einflussreichste Ausdruck des Pfeils, vom Blickpunkt des Ego zum Fluchtpunkt des Herrschers der Welt, vom Hier ins Unendliche.

Der Kreis der Epoche der Mythen ist nicht notwendigerweise ein einfacher und klarer Kreis. Die Linie windet und krümmt sich vielmehr, und wird zu Schleifen und Bändern, bevor sie zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt, wenn es denn solch einen Punkt gibt. So wie das Leben, im mythologischen Verständnis, immer seinen Pfad in die geprägten Muster der Ewigkeit verwebt, so kehrt ein keltisches Kosmogramm immer auf dem selben Weg zurück. Die Schlange des vedischen Indiens beißt sich in den eigenen Schwanz. Der Kojote der Hopi-Genesis durchläuft immer aufs Neue den selben Pfad durch die Viertel des Himmels.

Dies sind die Muster, die weder mit der Flugbahn eines Pfeils vom Bogen des Schützen zum zu erlegenden Tier noch mit dem harten und direkten Schwung des Schwertes eines Kriegers etwas zu tun haben. Durch die Hände der spinnenden Frauen lernen wir viel über den Faden. Aber dennoch haben wir vergessen, wie der Schicksalsfaden in die Hände der Nornen kam und wie er mit dem Vor und Zurück der sich windenden Schleifen in keltischen Symbolen des Lebens in Beziehung steht.

Aber es gibt Beweise, dass in vielen Kulturen die Textur eines gewebten Stoffes, ähnlich wie die Beziehungen eines Lebens mit all seinen Mitmenschen und der Gemeinschaft mit Dingen und Prozessen, nicht zerschnitten werden darf. Ein Stück Stoff kann an ein anderes genäht werden; aber „Schneidern“, die Kunst, Stoff nach einem abstrakten Design zu zerschneiden, scheint eine Erfindung monotheistischer Zivilisationen zu sein. So sind in Indien die Schneider Muslime, der gurta pajama wurde von den Mogul-Herrschern eingeführt und das den Sari ergänzende Oberteil von den Briten. Es wäre so gut, mehr darüber zu wissen.

II. Die textile Kosmologie des alltäglichen Lebens

In den traditionellen Yeruba-Gesellschaften Bantu-Afrikas versorgen die Haupthandwerkskünste die Mitglieder mit den notwendigsten Gütern und die Gemeinschaft mit den ebenso wesentlichen Ritualen, um gleichzeitig die Erde an den Himmel, dem sie entstammen, zu binden, und die Lebenden an die Toten, die Vorfahren, die geistig an der Gegenwart teilnehmen.

Der afrikanische Schmied hat Hammer und Ambos und Feuer von den Göttern empfangen, und wie Hephaistos in der griechischen Mythologie Durchführbarkeit in seine Hände genommen. Die Frauen kümmern sich um das Weben von Stoff. Die Textur entsteht durch die weiblichen Hände unter freiem Himmel, zwischen vier Pfosten, die als Rahmen dienen und die himmlischen Sphären darstellen. Der Faden wird in das entstehende Gewebe integriert dank „dem göttlichen Wort", das die bloße Materie des Fadens umgibt als Anwesenheit des „ersten Vorfahren".

So ist Gewebe im menschlichen Leben die entscheidende Erfahrung im Erschaffen von Kontext. In Bantu-Kulturen sind daher Spinnen und Weben männlichen und weiblichen Geschlechts, beziehungsweise wie Samen und Ernte. Anbau und Erschaffung sind ein Zeichen der Liebe. Wenn beides Arbeit der Frauen wird oder beiden jegliches Geschlecht ganz entzogen wird, zerbricht die Balance der kosmologischen Ordnung in den menschlichen Aktivitäten.
Aus diesem Grund haben in manchen Kulturen Stoffstücke eine vorgegebene Form und Größe und dürfen nie zerschnitten werden. Traditionelle Hindu-Kleidung besteht aus verschiedenen Methoden, die langen Stoffstücke um den Körper zu arrangieren. In Indien wurde das Schneidern, wie schon gesagt, nur bei den Muslimen Mode. Noch heute können Schneider Hindu-Assistenten zum Nähen einstellen, das Zerschneiden wird aber von den Muslimen übernommen. Schneider kommen aus muslimischen Gemeinden, die sich auf textile Handwerkskünste spezialisieren, und die Künste vermögen hier eine ihrer potenziellen Schlüsselfragen zu finden. Forschung in diesen Aspekten der Anthropologie könnte ein sehr wichtiger und sehr spezifischer Beitrag zu einem weiteren Verständnis der conditio humana werden. Wir brauchen eine gründliche Betrachtung sowohl der symbolischen Bedeutung von Kontext als auch der Erschaffung von mannigfachem Kontext als Teil der grundlegenden Handlungsweisen im täglichen Leben. Die Abwesenheit eines solchen Paradigmas stellt einen bedeutsamen Mangel im zeitgenössischen Bewusstsein dar. Gibt es zum Beispiel noch mehr grundlegende Beziehungen zwischen dem (Zer)Schneiden von Stoff und monotheistischen Religionen? Welche grundlegenden Einstellungen und Ansätze gibt es da zu erkennen, mit welchen Konsequenzen für unser Verständnis von der Welt und uns selbst? Werden sie, die Welt mit uns und die Fähigkeiten der menschlichen Wesen nur als bloße Werkzeuge eingesetzt oder werden sie freudig wahrgenommen als eine Antwort und ein Beitrag zur kosmologischen Ordnung?

III. Orte der Kontemplation

Wann immer ein wirklicher Kontext durch menschliche Hände entsteht, wird eine Übereinstimmung mit Ordnung im Allgemeinen sichtbar, ob sie nun in der Kosmologie als himmlische Ordnung interpretiert oder wie Rhythmus im Tanzen gelebt wird. Dies ist der kontemplative Aspekt auch aller textilen Handlungen.
Bis spät in das zwanzigste Jahrhundert hinein ist der strickende Schäfer ein zeitgenössisches Bild dieser Übereinstimmung - und noch immer in der freien Luft zwischen Himmel und Erde. Wie idyllisch oder auch lächerlich die Nadelarbeit einer Dame vielleicht geworden ist, von der Frau, die im Stuhl sitzend auf ihrem Schoße stickt, wird immer eine Atmosphäre schweifender Ruhe ausströmen. Mit dem Verfall der Kosmologie unter der Herrschaft monotheistischer Theologie und patriarchalischer Rationalisierung ist natürlich die Nadelarbeit ein Mittel geworden, die Frauen der Oberschicht, die nicht durch die Last der Feld- und Heimarbeit unterworfen wurden, zu domestizieren. Dies ist ein wichtiger Grund, warum es nützlich ist, sich an den Kontext textiler Arbeit in der Geschichte neu zu erinnern.
Penelope ist möglicherweise die bekannteste Weberin der griechischen Antike. Aber was wissen wir über ihr Weben? Die meisten von uns sagen, dass sie das, was sie tagsüber erreicht hat, nachts wieder rückgängig gemacht hat. Unter dem Druck, einen Gatten aus den von überall herkommenden Freiern zu wählen, erfand sie einen Trick. Sie würde auf die Heimkehr des Odysseus, den alle für tot hielten, warten, bis der Stoff fertig sei. Aber an das Weben zu denken war keineswegs zufällig. Ein Stück Stoff zu weben war genau das, was Frauen zu der Anstrengung des Helden, mit dem sie verheiratet waren, beitrugen, wenn der Krieger ein schlimmes Abenteuer zu bestehen hatte. So saß Helena von Troja, die definitiv kein typisches Beispiel einer kleinen Hausfrau war, webend in ihren Gemächern, während Paris seinen Kampf mit Achilles austrug. Das war eben der Brauch.
Sicher, solch ein Hintergrund war in der mittelalterlichen Herstellung von Wandteppichen und Stickereien immer noch irgendwie gegenwärtig. Wenn sie religiösen Zwecken gewidmet war, waren die Nonnenklöster ihr richtiger Platz. Damen edler Herkunft, die den Schleier genommen hatten, waren für diese Aufgabe die richtigen Personen. In heidnischen Zeiten lag der Schicksalsfaden, der die Zeit an die Ewigkeit band, in den Händen von Frauen, Nornen oder Parzen oder anders genannt. Dementsprechend war das Weben der Helden-Frauen eine symbolische Handlung. Penelope und Helena führten, wie all die anderen, ein Ritual durch, um ewige Ordnung zu stiften, während die Handlungen der Männer über die Ordnung in der Zeit entschieden.

IV. Abstrakter Text statt sinnlicher Textur

Diese Vereinfachung ist nichtsdestotrotz eine nützliche Hypothese. Die kulturelle Schlüsselbedeutung von Textur hat sicherlich bedeutend unter dem Wechsel von oraler zu geschriebener Tradition gelitten. Vielfältig sind die Anspielungen und Erwartungen an das Netz, das zusammen mit dem Wechsel vom Schreiben zu digitalen Techniken auf allen Ebenen der Information und Kommunikation als kraftvolle Metapher wiederhergestellt wird. Aber die Frage bleibt, ob der neue Schlüsselbegriff ,Netzwerk" es zulässt, das Netz als grundlegendes Paradigma fortzuführen. Ich meine, dass bei allen Anhaltspunkten für Vergleichbarkeit digitale Netze eine zu starke Rasterstruktur aufzwingen, als dass sie die spontane mimetische Ordnung des Netzes zulassen, für die das Werk der Spinne doch Vorbild bleibt.
Das textile Muster einer mythologischen Epoche wurde mit dem mentalen Zeitalter durch den geschriebenen Text ersetzt. Kontinuität wurde dann eher im Sinne linearer Zeit gesucht, der Pfeil von der Vergangenheit in die Zukunft. Da hat die Ewigkeit kaum Möglichkeiten, sich einzumischen. Das Konzept vom Kontext hat sich verändert. Nicht länger kann nicht manifeste Ewigkeit in die Textur des manifesten Fadens eingewoben werden. Nicht länger kann „das Verb, der letzte der mythologischen Vorfahren“, den Faden umgeben und die Kohärenz des Stoffes verbürgen.
Die frühen Texte vor-sokratischer Philosophie vermögen eine Vorstellung davon zu geben, wie sich der Übergang entwickelte. Sie wurden noch immer im Stile eines Epos in Versform wie Homers Illias komponiert. Der Gedanke folgte dem Gestus einer Erzählung. Erst durch die Herrschaft zeitloser Logik, die sie Schritt für Schritt nach den Modulen des Syllogismus deduziert, hat die Philosophie ihre epischen Ursprünge hinter sich gelassen. Der hymnische Stil verschwand, um so Platz zu machen für eine lineare Ausrichtung des Textes, in Analogie zum Denken nach den Prinzipien von Ursache und Wirkung.
Zur gleichen Zeit wandelte sich die Schrift von symbolischen Figuren zu phonetischen Zeichen. So veränderten sich die Prinzipien des Komponierens von den multipolaren Beziehungen zwischen Figuren zu der linearen Verbindung eines jeden einzelnen Elements zum anderen. Figuren wie in der chinesischen Tradition oder Buchstaben der hebräischen Schrift bilden immer als Bild ein Ganzes in sich selbst und sind zugleich Glieder, die vermitteln eine bestimmte Bedeutung nur vor dem Hintergrund aller anderen.
Die moderne poetische Ordnung, die, seitdem Herkules die antiken Buchstaben von den Priesterinnen der Mondgöttin stahl, angewandt wird, handelt mit scheinbar unabhängigen Elementen für den zufälligen Gebrauch.
Ich behaupte nicht, hier direkte Analogien zu entdecken. Aber indirekte Homologien werden uns sicherlich bewusst werden, wenn wir die Nachforschung in die prinzipiellen Bedeutungen der Muster ausweiten, die die Fäden eines Stoffes und die Wörter eines mündlichen Textes, im Gegensatz zu einem alphabetisch geschriebenen Text, verbinden. In welche Richtung unsere Vermutungen zu gehen vermögen, wird deutlich durch Derrick de Kerckhoves wichtige Entdeckung aufgezeigt. Gleichzeitig mit der Anwendung des phonetischen Alphabets hat die Schrift in allen bekannten Zivilisationen ihre Richtung geändert. Seit Beginn des mentalen Zeitalters schreiben wir von links nach rechts, nicht länger von rechts nach links. So überlässt die rechte Hemisphäre des Gehirns, die sich der Welt in Geste und in Gestalt bewusst wird, der linken und deren Haltung von Analyse und Rekonstruktion das Feld.
Bewusstsein einer symbolischen Bedeutung von vernünftiger Ordnung verschwindet, während wir nicht länger die Bedeutung geschriebener Symbole durch mündliche Aussprache neu erschaffen. Die hebräische Schrift zum Beispiel markiert nur die Konsonanten, die Vokale entstehen während unseres Vortrags. Die Gegenwart von Kosmologie in unserer Führung des Fadens oder der Schaffung von Bedeutung wird zu einer verlorenen Kulturtechnik. Wieder erinnert uns Marcel Griaules Bericht über die Tradition der Dogon an einen bedeutenden Zusammenhang.
Das Wort, letzter der mythologischen Vorfahren ihrer Kultur, lebt im Geräusch des Webens. Es begleitet die Fäden, ihre Zwischenräume erfüllend, und belebt ihre Einheit als Stoff.
Die Kultur, die auf einer Schrifttradition basiert, weist dem Wort eine zu spezifische Funktion zu und entzieht es allen Zusammenhängen, die nicht Text sind. Dabei schafft es eine Kluft zwischen Kontext im Allgemeinen und Text sowie zwischen Text und allem Textilen.

In unserem Bewusstsein machen Helena und Penelope Nadelarbeit, während ihre Ehemänner heroisch die Ordnung der Wirklichkeit neu formen. Zu ihrer Zeit sprachen diese Frauen mit der Welt, webend.
Wir streben heute, hastig und irgendwie emphatisch, nach Digitalisierung. Wir haben noch nicht einmal anstehende Fragen nach der Wandlung unseres Lebens und der Interpretation der Welt als Folge des schriftlichen Ansatzes gestellt. Wenn uns dieser Mangel an Bewusstsein nicht in die größten Gefahren treiben soll, so müssen wir unsere Aufmerksamkeit einer anderen Ordnung von Mustern, die verbinden, widmen. Und sicherlich ist nichts geeigneter für solch eine Übung des Verstandes mit den Augen der Sinne als das Feld der textilen Handwerke und Künste. Modernes Weben ist hauptsächlich horizontal ausgerichtet. Frühgeschichtliches Weben, bei dem die Fäden von einem Gestell hingen, ist noch viel offensichtlicher eine sehr konkrete kosmologische Technik des Machens, Denkens, Fühlens: ist Leben zwischen Himmel und Erde.
Zwei symbolische Bilder unserer Zeit können eine Schlussfolgerung nahe legen. Als Joseph Beuys seine Arbeit zum zerstückelten Osiris entwarf, konnte er sich keine offensichtlichere Materialisierung vorstellen, als die Stücke eines nach dem Kleiderschnittmuster zerschnittenen Stoffes. Sie sind über die großen Oberflächen seines „OSIRIS“ in Berlin, Museum Hamburger Bahnhof, verteilt zu finden.
Als Mahatma Gandhi eine friedliche, produktive, beschauliche Handlung in das moderne Leben einführen wollte, begann er täglich, eine Stunde zu spinnen, ob im Gefängnis oder zu Hause.
„Das Muster, dass verbindet“ ist Gregory Batesons Schlüsselbegriff für alles Lebende. Dies ist das gemeinsame Paradigma für die Tiefen des Biologischen und die Höhen des Geistigen natürliche, ein „auftauchendes Paradigma“. Alle Organismen folgen ihm, während sie ihre eigensten materiellen Formen ausbilden. Schritt für Schritt; das heißt Epigenese. Diese Muster können nur in der Zeit hervortreten, also nur in Geschichten, in Biografien, die freilich der Moral eigener bestimmter Bedingungen und ihren eigenen Freiheiten folgen.
Welche Technik unter den Händen von Menschen wäre diesen Mustern kunstvoller verwandt als die Technik des Gewebes? Ein großes Vorbild für jede Kultur.

Literatur
* Unveröffentlichtes Manuskript © Prof. Dr. Rudolf Prinz zur Lippe
Bateson, Gregory: Mind and Nature. A Necessary Unity, New York; 1979
Gebser, Jean: Der Unsichtbare Ursprung. Evolution als Nachvollzug, Olten; 1970
Griaule, Marcel: Dieu d'Eau, Paris; 1948
Rykwert, Joseph: The ldea of a Town, London; 1976
Lippe zur, Rudolf: Sinnenbewusstsein. Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik, 2. Bd., 2. Aufl., Hohengehren; 2000

portrait
© S.K.B.
Abbildung
"Schwarm1", Rudolf zur Lippe, 300 x 50cm, Tusche auf Papier, 2009
© R. zur Lippe

Biografie Rudolf zur Lippe, geb. 1937 in Berlin • Professor für Ästhetik an der Universität Oldenburg • 1965 Promotion (Dr. phil.) • 1969 begann er bei Theodor W. Adorno seine philosophische Arbeit an einer Geschichte des Leibes in der Moderne, die er 1973 mit der venia legendi für Sozialphilosophie und Ästhetik an der Philosophischen Fakultät der Universität Frankfurt abschloß • Von 1971 bis 1976 lehrte er in Frankfurt Philosophie und von 1974 bis zur Emeritierung Ästhetik an der Universität Oldenburg • 1982 gründete er das Institut für praktische Anthropologie e.V., mit dem er eine wissenschaftliche Ausstellung zur „Geometrisierung des Menschen“ in verschiedene Länder der Welt bringt • In den letzten Jahren bringt er als Maler das Denken zum Tanzen.
Mit seiner GESTISCHEN MALEREI und internationalen Ausstellungen übt Rudolf zur Lippe derzeit seine "Philosophie des Wandels und der Bewegung" ganzheitlich aus und lässt uns "Ordnungen anderer Art" erfahren. Er wünscht sich, "dass die Einbildungskraft sich aufgerufen fühlt, andere Ordnungen in den Beziehungen der Gesellschaft, in den Entwürfen der zukünftigen Städte, im Zusammenwirken von Wissensformen und auf vielen weiteren Gebieten zu suchen". Seine Bildung durch den Austausch mit großen Philosophen unserer Zeit und seine Arbeit in Indien und in Japan hat ihn in dem bestätigt, was er immer schon praktizierte. Körper und Geist kommen in einer einzigen Bewegung zusammen, zum Beispiel im Sinne der Durchlässigkeit seines Zen-Lehrers Durckheim.

Rudolf zur Lippe in Wikipedia

Schriften Autor zahlreicher Bücher, z.B. Sinnenbewusstsein - Grundlegung einer anthropologischen Ästhetik, Rowohlt 1987 • Das Denken zum Tanzen bringen: Philosophie des Wandels und der Bewegung, Karl Alber Verlag 2010 • Plurale Ökonomie: Streitschrift für Maß, Reichtum und Fülle, Karl Alber Verlag 2012.
Herausgeber der Zeitschrift „POIESIS - praktisch-theoretische Wege ästhetischer Selbsterziehung“

Reinhard Schulz (Hrsg.): Zukunft ermöglichen: Denkanstöße aus 15 Jahren Karl Jaspers Vorlesungen zu Fragen der Zeit; Zu Ehren ihres Initiators Rudolf zur Lippe, Königshausen & Neumann 2007

Literatur von und über Rudolf zur Lippe in der Deutschen Nationalbibliothek