Textile Erinnerungen
1980, ich war gerade 15 Jahre alt geworden, stand ich das erste Mal in den Hallen der Textilfabrik Josef Otten in Hohenems und musste mich dem Rhythmus der Maschinen unterordnen. Mein Vater tat das bereits seit fast 30 Jahren und sollte bis zu seiner Pensionierung als Stoffdrucker in ein und derselben Firma arbeiten. Im westlichsten Bundesland Österreichs, in Vorarlberg, nahe der Grenze zur Schweiz als auch zu Deutschland, keine ungewöhnliche Geschichte. Vorarlberg galt als Textilland schlechthin. In den 50er Jahren waren fast die Hälfte der Erwerbstätigen im industriellen Sektor tätig, drei von vier Arbeitnehmern davon in der Textilbranche. Baumwollspinnereien und -webereien, Strickereien und Wirkereien konnten sich vor Aufträgen kaum retten. Der Mangel an Arbeitskräften führte dazu, dass man versuchte inländische Arbeitnehmer aus anderen Bundesländern, vor allem aus Süd- und Ostösterreich, anzuwerben. Mein Vater folgte, wie viele andere, 1956 dem Ruf von Kärnten nach dem „Goldenen Westen.“ Doch die Zuwanderungen einheimischer Arbeiter nach Vorarlberg waren nicht ausreichend. Ende der 60er Jahre kamen die ersten Migranten, insbesondere aus dem damaligen Jugoslawien und der Türkei. Die prosperierende Wirtschaftslage gab so auch den meist ungelernten Arbeitskräften die Möglichkeit in der Textilbranche unterzukommen.
Karl Marx hatte im Kapital die Genese des Kapitalismus und der Arbeitsteilung nicht zufällig anhand der Textilindustrie exemplifiziert: An Stoff und Leinwand werden seine berühmten Analysen von Ware und Geld entwickelt. Die ersten großen Zentren der kapitalistischen Produktion sind wesentlich Orte der Textilproduktion. Das „unsichtbare Gewebe“ des Marktes und die industrielle Arbeitsteilung gehen vor allem im frühen 19. Jahrhundert aus der Bekleidungsindustrie hervor. Aber der Kapitalismus, so schon Marx` Beobachtung, zerstört die lokalen Industrien und erzeugt eine Globalisierung, die die alten und traditionellen Zusammenhänge sukzessive auflöst. Als Ende der 70er Jahre die erste größere Weltwirtschaftskrise seit 1945 einsetzte, war auch die exportorientierte Vorarlberger Textilbranche betroffen. Zudem konnte sie dem steigenden Konkurrenzdruck aus den Billiglohnländern Asiens nicht mehr Stand halten. Waren 1973, auf dem Höhepunkt der Textilproduktion in Vorarlberg, 62 Prozent der Beschäftigten in der Branche tätig, waren es 30 Jahre später nur noch 15 Prozent. Nach und nach verschwanden die Namen meiner Kindheit und Jugend oder wurden zu leeren Worthülsen: Ganahl, F.M. Hämmerle, Rhomberg, Josef Otten - fast alle meine Verwandten hatten in einer dieser Fabriken Arbeit gefunden und manche sahen nun einer ungewissen Zukunft entgegen. Mit den Namen verschwanden auch einst vertraute Begriffe, die heute nur noch Spezialisten kennen: Kalandern, Appretur, Doggen.
Das lokale Gewebe ist heute zerrissen und hat einem globalen Netz Platz gemacht, das in neuartiger Weise Länder, Industrien, Menschen und Wissen miteinander verbindet oder sie überflüssig macht. Ich sehe mich noch an den endlosen Stoffbahnen stehen, die durch Trocken- und Appreturmaschinen laufen, gelangweilte Männer in der Farbküche, Frauen der Weberei in ihren blauen Mänteln - heute ist das schon Geschichte, und nicht umsonst sind die Orte der Produktion zu Stätten von Theatralisierung und kulturellen Inszenierungen geworden. Das soziale Gewebe, in das ich damals eingetaucht bin, der Mikrokosmos der Fabrik, brachte in mir eine Verwandlung hervor: ich fühlte mich als Teil einer größeren Struktur, als Rad in einer Maschinerie, als Individuum in einer Gemeinschaft. Dieses Gefühl war ambivalent und wird es bleiben. Bindung und Freiheit, irgendwo zwischen diesen beiden Polen, verwoben und doch auch ein einzelner Faden. Was bleibt, ist heute wie damals, die Suche nach dem goldenen Muster in unserem Leben.