Kultur / Pädagogik / Anthropologie

Edelgard Rabe | Mainz-Bischofsheim
portrait
© E.Rabe

Biografie-Gewebe

spinngewebe

...obwohl ich schon Schwierigkeiten habe, meine Biografie zu sortieren.

Die Erzählungen meiner Eltern über den Zeitpunkt meiner Geburt führten in meiner kindlichen Fantasie zu der wohl nicht zu ändernden Tatsache, Schuld am Krieg zu sein. Ich wurde am 21. August 1941 in Dortmund geboren und wegen der Fliegerangriffe auf das Ruhrgebiet konnte meine Mutter keine Geburtsklinik aufsuchen. Ich wurde unter dramatischen Umständen zu Hause geboren.

In meiner Erinnerung fand ich Entlastung in den Märchen, die ich schon früh lesen konnte. Eine tröstliche Magie ging von den Grimmschen Märchen aus. Es ist gut ausgegangen! Das Gute siegt, das Böse wird bestraft! Wunderbare Gewißheit!

Während meiner Berufstätigkeit an verschiedenen Grundschulen in der Pfalz, später in Mainz - im Umgang mit entwicklungsverzögerten Kindern - fand ich wieder zu dieser Magie des Erzählens.
Noch heute, acht Jahre nach Beginn des Ruhestandes, werde ich manchmal in Mainz von Ehemaligen angesprochen, die sich noch genau an mich und mein Erzählen erinnern können. Nun bin ich regelmäßig, in Wiesbaden und Bischofsheim, als Erzählerin für Kinder und Erwachsene unterwegs.

Kannst du dich an den Abzählvers beim Seilhüpfen erinnern: Verliebt - verlobt - verheiratet - geschieden ? Dann wurde gezählt 1, 2, 3,... bis zum Fehlhüpfer. So ähnlich könnte ich meine Biografie auch beschreiben. Den Witwenstand bringe ich da nicht so recht unter. Alexander und ich fanden uns vor 8 Jahren, hüpfen nicht mehr Seil, fahren aber Rad und machen die Dinge, die man in unserm Alter so tun kann und will.
Ich hatte zwei Kinder, mein Sohn starb mit fast 21. Meine Tochter machte mich bereits zur zweifachen Großmutter. „Ama“, - so nennen mich die Enkelkinder - „erzählst du eine Geschichte?!“ „Das mach ich doch gern!“
Abschließen möchte ich mit einem Satz von Max Frisch : „Erst dadurch, daß eine Welt erzählt wird, ist sie da, und erst, wenn sie da ist, kann sie erobert werden.“

Liebe Grüsse, ich freu mich auf dein Fest und die Zeit am Sacrower See, so heißt der glaube ich. Bis bald Edel

Märchen verbinden

Es hat sich herumgesprochen, dass ich eine Märchenerzählerin bin, und eines Tages wurde ich gefragt, ob ich auch Erwachsenen, geistig behinderten Erwachsenen, ein Märchen erzählen würde. Ich sagte zu, im Hinterkopf den Gedanken, wenn nichts geht, dann singen und klatschen wir eben.

Zwerg Nase von Wilhelm Hauff suchte ich aus.

Am verabredeten Tag, zur verabredeten Zeit, kam ich in das Wohnheim und wurde schon ungeduldig erwartet.

Viele der Zuhörer saßen im Rollstuhl, von Pflegern betreut und beruhigt, viele waren sehr aufgeregt.
Die Heimleitung sagte mir, es komme nicht oft zu so einer Veranstaltung. Als alle im Raum waren, wurde eine Frau im Rollstuhl hereingebracht, die ständig laut und gellend schrie und sich dabei immer auf ihren Kopf schlug. Die Pflegerin konnte sie nicht beruhigen und meinte, es sei im Interesse aller, die Frau wieder in ihr Zimmer zu bringen. Ich bat sie zu bleiben. Ich begann mit meiner Erzählung, die Frau hörte bald auf zu schreien, schlug sich nicht mehr, und schaute mich ununterbrochen mit ihren großen, braunen Augen an. Ich erzählte fast eine Stunde lang.

Was passierte da zwischen ihr und mir?
Es gab da etwas, was uns verband. Hauchdünn und zart. Wie ein dünnes, zartes Gewebe, so schien es mir.

Für die Dauer der Erzählung vom Zwerg Nase, der einmal ein hübscher Zwölfjähriger war, der durch den bösen Zauber einer Hexe zum missgestalteten Zwerg wurde. Er musste viele Prüfungen bestehen, bevor er endlich nach 7 Jahren seine wirkliche Gestalt wieder erlangte, zu seinen Eltern fand und zu einem glücklichen Leben kam.

Den intensiven Blick ihrer Augen kann ich nicht vergessen und ihre tiefe Ruhe, mit der sie anwesend war.
Ob sie die Geschichte verstanden hatte?
Ich weiß es nicht, auch die Pflegerin konnte es nicht sagen.

Der Schleier, der sie von der übrigen Welt trennte, hatte sich für die Dauer eines Märchens gehoben.

 

Biografie Edelgard Rabe, geb. 1941 in Dortmund. Tätigkeit als Lehrerin in der Pfalz und in Mainz. Mutter, Großmutter. Im Ruhestand. Verwitwet. Märchenerzählerin. "Erst dadurch, dass eine Welt erzählt wird, ist sie da, und erst, wenn sie da ist, kann sie erobert werden." Max Frdisch

edelrabe(AT)web.de