Alle Abb. © A. Reidemeister
Von Linien in der Stadt... zum räumlichen Gewebe
„Mythos Berlin:“ und
der Giebel des Anhalter Bahnhofs
Dimensionen werden genutzt: ein Stadtraum wird formuliert
--- Mythos Berlin
...was war das?
1987: 700-Jahr-Feier des geteilten Berlin.
„Mythos Berlin“ war das Konzept für eine Ausstellung in einem vom Krieg besonders verwüsteten Segment Berlins.
Es ging um eine metaphorische Übersetzung der Erinnerung ins Heute mit den Mitteln der Kunst und der Medien... in einer Zeit der Wandlung wunderbar kuratiert von Eberhard Knödler-Bunte!
„Mythos Berlin“ war eine „alternative“ Ausstellung, „Mythos Berlin“ war wirklich eine „low — budget“ — Ausstellung, „arte povere“!
Schon damals - lange vor den Hochpreis - Kulturveranstaltungen heutiger Tage — war das etwas, bei dem das Establishment die Nase rümpfte.
Aus heutiger Sicht wird klar: wir haben 1987 einen Öffentlichen Raum an einer herausragenden Stelle der Stadt geschaffen, der frei war von Kommerz.
Stadträumliche Realität... eine Entmythologisierung
Die Portikus - Ruine des Anhalter Bahnhofs war eine „heilige Kuh“ für die Erinnerer des verschwundenen Berlin... der dynamischsten europäischen Großstadt, vor dem 1. wie vor dem 2. Weltkrieg.
In Wahrheit war die weite Leere, die der Abriss der gesamten monumentalen Bahnhofshalle geschaffen hatte, das eindrucksvollere Dokument der Stadtraumgeschichte Berlins!
Dieses brachliegende, polymorphe Abrissfeld war eine der typischen „Inneren Peripherien“, die dynamische Großstädte kennzeichnen.
Abb. 1
die Beiträge von Bazon Brock und Silvia Klara Breitwieser.
Abb. 2
--- Entwurf eines Ausstellungsareals: die zweifache Raumdefinition
Die Unterscheidung von
--- Erinnerung eines versunkenen Objekts und
--- Wahrnehmung einer aktuellen stadträumlichen Dimension, wie wir sie sahen: diese Unterscheidung wurde durchgehend zu einer Idee eines Entwurfs gemacht, zu einer klaren Entwurfsmethodik:
Abb. 3
Die Längsachse des Raums:
die verlorene Dimension der Halle des Anhalter Bahnhofs: sie wird neu artikuliert: durch den
Wiederaufbau des Südgiebels der Halle, in abstrakter Form:
ein Stadtzeichen entsteht:
räumliche EXPANSION!
Abb. 4
Und die Querachse des Raums:
die Ausdehnung des Brachfeldes in die Breite wird kräftig reduziert: in die Weite wird eine Enge hineingestellt:
Bau zweier „Ausstellungskeile“:
räumliche REDUKTION!
Konkret hieß das:
um eine konzentrierte Atmosphäre zu schaffen, wurden für die thematischen Gruppen zwei nah beieinander gestellte 3-geschossige „Regale“ gebaut, nach außen geschlossen wie ein Schrank.
Der enge Abstand zwischen den zur Mitte hin ganz offenen „Regale“ erzeugte ein ganz neues Raumgefühl... und die Besucher, die in diesen Regalen herumklettern, sehen sich... ein heiteres Erlebnis!
Nicht nur die Erinnerung an die versunkene Metropole, die in den Ausstellungsbeiträgen evoziert wird...
...auch „der Augenblick ist die Geschichte“!
Abb. 5
--- Der Effekt...
...im Lichte der heutigen Struktur des öffentlichen Raums
Damals schufen wir den Prototyp eines NICHT-KOMMERZIELLEN RAUMS, das war uns gar nicht so bewusst!
Wo sich heute
- in jeden Stadtraum, in jede Museumshalle, in jedes Konzerthaus-Foyer der Kommerz hineindrängt,
- wo Alpenstationen von Seilbahnen, oder Staatsgrenzen kommerzialisiert und damit verwischt werden,
- wo Rock-Konzerte oder das „public viewing“ von Sportereignissen zu einer Konsumorgie umfunktioniert werden,
war es damals noch möglich, einen Ort der Kontemplation, des Schlenderns und der Diskussion zu schaffen,...
Die Diskussionen fanden im „Republikanischen Forum“ statt, in der U-förmigen Torf - Stufenanlage von Silvia Breitwieser.
--- Die Durchführung... "arte povere"
Der Südgiebel in seinen historischen Dimensionen: über 6om breit, 30m hoch:
Zuerst war — um das Ziel des abstrakten, gelockerten Umgangs mit Geschichte deutlich auszudrücken - das Modell eines gekippten Stahlskeletts, mit transparenter Folie bespannt, geplant.
Als das Modell 1:50 auf das Gelände getragen wurde, um im bekannten Verfahren ein Foto in seiner realen Umgebung zu machen, herrschte ein solcher Sturm, dass die Folie zerriss... eine Vorahnung: das Konzept war nicht zu finanzieren!
Abb. 6
Realisiert wurde eine statisch optimierte Bogenkonstruktion, ohne ikonografische Akzentuierung.
Abb. 7 und 8
Die Ausstellungsbauten, die „Keilgebäude“
Für die beiden Keilgebäude, die „Regale“ für die Ausstellung konnte nur das Erdgeschoß realisiert werden... nur eine - als Architektur nicht mehr wirksame — eingeschossige Unterbringungshülle mit Seitenkabinetten konnte realisiert werden... Arte povere!
Abb. 9
--- Intermezzi...
Abb. 10
„La Tortuga“
Ein Abschiedsereignis war die Installation von Wolf Vostell:
eine Güterzug - Lokomotive mit Tender wurde mit schwerem Gerät auf den Rücken gelegt, direkt im bildhaften Bezug zum Skelett des Südgiebels!... ein symbolischer Endpunkt!
„easa assembly“
Und ein zweites Intermezzo - ein Jahr später, 1988 - war kulturell herausragend: die easa, the european architecture students assembly kampierte für 14 Tage auf dem Mythos - Gelände, die essembly hatte hier ihre meetings (Organisator: Sebastian Wagner).
Wir inszenierten für dieses Ereignis den Südgiebel neu:
mit rot-weißen Bändern, die sich im Wind drehten. Mit der Benutzung des Ausstellungsortes von „Mythos Berlin“ setzte die assembly ein Zeichen, sie rief zum Erhalt des Bogens auf!
Über die Teil-Stadt Westberlin verteilt hatten die 300 Teilnehmer ihre workshops und Installationen: Westberlin - immer ein Mythos für Architekten und Architekturstudenten — war - nach Delft, Lissabon, Aarhus, Athen, Turin und Helsinki - kurzzeitig das europäische Zentrum progressiver städtebaulicher Recherchen, Diskussionen und Entwürfe in Europa!
Abb. 11
--- Die Folgen: die Zerstörung des Stadtzeichens
Der Bogen — ein mehrdeutige „Stadtfigur“ — stand für Jahre... bis die Mähr aufkam, er wäre einsturzgefährdet!
Abb. 12
Tatsache war, daß die rotweißen Bänder, die wir für die easa — assembly in die Giebelfigur eingewebt hatten, herum- und herunterhingen.
Ein Mann in einem kneifzangenbestückten Bagger zerstückelte alles in 2 Wochen, das war's.
Heute ist der gesamte Stadtraum „stillgelegt“, gesäubert, geleert, aus dem Stadtgefüge ausgegrenzt...so, wie man in den zentralen Bereichen der Stadt verfährt!
Abb. 13
Das Abrissfeld des Anhalter Bahnhofs ist - trotz des Tempodroms - eine tote Ecke zwischen Stresemann-, Möckern- und Schöneberger Straße, wer kennt sie schon?
Heute orientiert man sich nach anderen „landmarks“....an den Monumenten der Hochkultur und an den Burgen des Kommerzes, die die Stadt dominant und fett füllen. Aber sie haben keine Zukunft, sie sind monofunktional und ohne historische und ikonografische Kraft!
Andreas Reidemeister und Joachim Glässel
mit Konstanze Neuerburg, Entwurf
Dietrich Riemann, Konstruktion
Franz-Josef Hilbers, Statik