Die Gabe, 2010
Text heißt Gewebe; aber während man dieses Gewebe bisher immer als ein Produkt, einen fertigen Schleier aufgefasst hat, hinter dem sich, mehr oder weniger verborgen, der Sinn (die Wahrheit) aufhält, betonen wir jetzt bei dem Gewebe die generative Vorstellung, daß der Text durch ein ständiges Flechten entsteht und sich selbst bearbeitet; in diesem Gewebe - dieser Textur - verloren, löst sich das Subjekt auf wie eine Spinne, die selbst in die konstruktiven Sekretionen ihres Netzes aufginge. Roland Barthes: Die Lust am Text. 1986
Text ist also Gewebe. Dieser Gedanke beschäftigt mich in meinen Schreibvorgängen schon lange. Ebenso das bildliche Moment, das in diesem Gedanken steckt. Zumal Augen, die lange genug auf Wörter blicken, diese mit der Zeit zum Verschwinden bringen können. Etwas Bildliches kommt dann zum Vorschein: der Stoff aus dem die Worte sind. Zeichen heben sich von der weißen Fläche ab und wollen etwas bedeuten. Doch bevor das Eindrückliche als Buchstabe identifizierbar wird, sich zu Worten und im besten Fall zu Denksätzen fügt, sind nichts als Linien, Punkte, Bögen, Haken, Ecken zu sehen. Das Auge tastet sich durch die eintönige Landschaft der linearen Schrift auf der Suche nach Aussage und Sinn. Solcherart wahrnehmendes Sehen mag bei einem Bild, kaum aber bei einem gedruckten Text sinnvoll sein. Doch auch hier wird der Reisende Entdeckungen machen können.
Zum Beispiel, dass das Schwarze etwas vom Weißen überdeckt und also immer etwas außen vor bleibt, im Hintergrund verschwindet, in einer Falte verloren geht - ein Phänomen, das das Denken entweder zum Scheitern oder in Hochform bringt. Oder die Erfahrung, dass der Text ein im Werden begriffenes Etwas ist, dessen Material (das Wörterbuch) zuvor schon tausendfach von anderen benutzt wurde, also gar nicht originell ist, und es also dem Leser zukommt, die Worte, Sätze, Zitate zu einem einheitlichen und einmaligen Sinngefüge zu verknüpfen, sie miteinander in Beziehung zu setzen. Der Text ist ein Gewebe, bestehend aus dem Schatz vielfältiger Schriften und kultureller Kontexte. Der Leser bringt sie miteinander in Dialog, stellt sie in Frage, parodiert sie gar; er vernetzt, verwebt, verfilzt, verknüpft, verflechtet, überkreuzt, verspinnt oder verknüpft sie in einer Weise, dass der Autor als Ur-sprung des Ganzen fast darin verschwindet.
Solcherart Webwerk mag darum nicht jedermanns Sache sein. Die durch S. B. zu diesem GEWEBEWERK geladenen und versammelten Zeitgenossen finden allerdings Vergnügen daran, Verbindungen herzustellen, mitzuweben und in ihrem Netzwerk zu verschwinden.
VERBINDUNG 2011 - Verknüpfung, Kreuzung, Schnittstelle: Texteinspinnung
Berlin, Ostern 2011: Ich ordne die Worte WEAVING WORK und WEB_WERK linear auf verschiedenen Blättern als Text an und verwende jeweils unterschiedliche Schrifttypen und -größen. Durch das Ineinanderschieben der horizontalen Schriftlinien entstehen vertikale Verbindungen. Der Text wird als Gewebe sichtbar. Durch Leerstellen oder zusätzliche Worteinfügungen (mit anderem Schriftbild) entstehen Verschiebungen, Konstellationen, Risse, Konglomerationen. Das Gewebe wird räumlich, körperlich, bewegt.
Drei Abbildungen: Weaving Work für Silvias GeWebeWerk, Hanne Seitz, 2011
VERBINDUNG 1989: Verknüpfung, Kreuzung, Schnittpunkt: Körpereinspinnung
La Pleine, Südfrankreich, Spätsommer 1989: In der Hitze des Morgens sitze ich Tag für Tag eine Woche lang auf einem kleinen Hügel in einem aus der Ferne weit sichtbaren, abgestorbenen Baum. Kein Schatten nirgends. Mit einem dünnen, weißen Seidenfaden spinne ich den Baum ein. Am Spätnachmittag sammle ich blühende Ginsterzweige und umwickle sie mit den weißen Seidenfäden zu einer festen Spindelform. Ich mache aus Seidenpapier mehrere Abdrücke von der Form und webe zwischen die Schichten hauchdünne rote Seidenfäden. Es entsteht ein halbschalenförmiges längliches, weißes Objekt. Zwei weitere Abdrücke füge ich aneinander und forme eine Maske. Zuletzt sitze ich als Larve im Baum und spinne uns ein - bis mir buchstäblich Flügel wachsen. Ich entsteige dem Baum. Die Ginsterspindel und das wie eine leere Hülle anmutende Objekt bleiben zurück. Ich renne über den nahegelegenen, weiträumigen Stoppelacker der untergehenden Sonne entgegen. Mein Schatten auf dem Feld wird länger. Ich werde immer schneller. Der Horizont kommt mir entgegen: "Im Schatten der Sonne". (Sommeratelier PLAYING ARTS)
Im Schatten der Sonne, 1989