Zum Web-Werk von Silvia Breitwieser
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Dein Exposé finde ich weiterhin sehr aufreißend, öffnend, in den Horizont weisend. Stark machen würde ich den Gedanken eines Sprungs hinein in dieses neue Medium - meinetwegen auch im Sinne von: Eine VOR-WWW-GENERATION betritt das WWW und lässt sich darauf ein, aber viel radikaler als all das, was heutzutage im Netz als radikale Offenlegung (Auflösung der alten Unterscheidung von öffentlich/privat) zu sehen und zu hören ist.
Vielleicht wäre eine Teilung des Projektes notwendig. 1. Phase: Einsammeln der Texte. 2. Phase: Diese werden von Dir oder von Algorithmen vernäht. 3. Phase: Verschickung dieser Textur an alle Schreiber - mit der Aufforderung der Re-Lektüre und der Re- Deskription (...“auf dass ein Gespräch / ein Gewebe wir werden“).
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Es gibt einen alten, von der kritischen Theorie inspirierten Gedanken, nämlich: in dem Moment, in dem Dinge, Beziehungen, Überzeugungen, Vorstellungen, Praxen in der realen Gesellschaft manifest werden, sind sie schon wieder längst latent, ausgebrannt, gesellschaftlich nicht mehr unter Strom, virtuell, Gestalten von Imagination. Das Beispiel für diese nicht mehr ausreichend dialektische Verschränkung von manifest/latent wird oft am Begriff Individuum festgemacht: Genau zum Zeitpunkt der hegemonialen Aufforderung, sich individuell zu verstehen, verstehen zu müssen, ist der Individualismus in Gänze von der gesellschaftlichen Bildfläche namens Synthesis verschwunden.
Wie verhält es sich nun mit dem Netz, mit Vernetzung, mit Gewebe, mit Weben (Leben, Sein: das alte, romantische Triumvirat der Verhaltenslehre)? Ist im Moment der flächendeckenden, fast „weltweiten“ Inauguration des „Social Web“, des Networking, der communitybasierten Form des Arbeitens als gesellschaftliche Realität des WWW exakt diese augenscheinlich „sozialere“ Form funktionaler Beziehung auch schon wieder längst in den erkalteten Strömen gesellschaftlicher Dynamik zu finden? Ist das Netz als real manifeste Gestalt sozialer Beziehungen Trugbild einer längst latent und virtuell gewordenen, historisch abzuhakenden Möglichkeit, 'Funktionalität' zwischen Menschen partizipationsfreundlicher zu machen? Und wenn: Wäre das schlimm?
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Abstraktion und Virtualität, Konkretion und Realität gesellschaftlicher
Synthesis laufen seit knapp zwei Jahrzehnten in meines Erachtens eigentümlichen
Bahnen. Da gibt es erstens die Blase der marktgesellschaftlichen
(und nicht bloß marktwirtschaftlichen) Bewertung des Wertes, der Wertsteigerung,
der voraussichtlichen Mehrwertproduktion, bzw. -spekulation von
bestimmten Produkten, Dienstleistungen, vor allem aber Unternehmen
(dies passiert manifest durch die Börsencomputersysteme); und zweitens
die Blase im Sinne des Horizontes, in den bestimmte Produkte, Dienstleistungen
und Infrastrukturen eingebaut werden, also in der Regel Produkte,
die die mediale, die virtuale Interaktion resp. den virtuellen Verkehr
betreffen, bedienen und ausbauen.
Es geht damit einerseits um die zunehmende Abhängigkeit der Handlungs-,
Entscheidungs- und Bewertungsanschlüsse innerhalb der Gegenwart von
einer zukünftigen Gegenwart, einer zukünftigen Realität, einer nicht einsehbaren
Zukunft (abstrakte Virtualität); und andererseits um eine zunehmende
Ausfüllung der Gegenwart mit Interaktionen, die durch Abwesenheit
realer Konsequenzen, durch Abwesenheit körperlicher Anwesenheit, durch
Subordination realer Manifestation unter die rein mögliche Erscheinung
innerhalb einer digitalen Darstellungswirklichkeit gekennzeichnet werden
kann (konkrete Virtualität).
Was kann nun das Web-Werk sein? Ein Rückblick auf die Zeit, als das
historisch Unabgegoltene sich noch ex negativo an den Manifestationen
gesellschaftlicher Realität ablesen ließ (von wenigen nur, gewiss!)? Ein
Aufmerksammachen, dass sich der Stoß in die gesellschaftliche Latenz nun
manifest virtuell zu zeigen vermag (also ein Fortschritt in der Sichtbar
werdung gesellschaftlicher Auflösung)?
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Kleine Fragen sind vielleicht besser:
Mit dem Web-Werk könnte der Gedanke als Frage stark gemacht
werden, welche Botschaften wir und ob wir überhaupt noch Botschaften
in die Welt hineingeben wollen. Denn das Netz ist eindeutig
eine Plattform der Werbebotschaften, nicht der Webe-Botschaften.
Zu fragen wäre: Ist das WEB ein mögliches Werkzeug, um das
In-Beziehung-Sein neu zu skulpturieren? Passiert Emergenz des
Beziehens als solche? Also mehr als die gegenwärtig vorherrschende
Multiplikation der Erscheinung von vereinzelten Einzelnen?
Wenn es stimmen sollte, dass Raumexistenz des Menschen verstärkt angegriffen wird durch den Zwang, eine Zeitexistenz führen zu müssen; wenn es stimmen sollte, dass die gesellschaftliche Zeitexistenz neue Formen des sozialen Ordnens erfordert und erzwingt, Formen, die auf etwa folgendem Axiom beruhen: „Nicht das Subjekt, sondern die in Ereignisse aufgelöste Zeit gibt der Handlung ihre Identität“ (N. Luhmann, Soziale Systeme, p 390); und wenn es stimmen sollte, dass stärkere Beachtung der Zeitlichkeit von Handlungen, Personen und Kommunikationen eine dinghafte Verfestigung der sozialen Dimension eben dieser Komponenten eher verhindert, denn fördert; und wenn es stimmen sollte, dass all dies im und mit dem Netz passiert, in Gestalt einer Adress- Werdung des vormals Person genannten Subjekts, in Gestalt einer flachen Adresse, zu der man wird als Ereignis einer Zeit der Kommunikation, die alles weitere tilgt, was in der Bewußtseinsphilosophie das Erste überhaupt war - dann ist es an der Zeit, dem nachzuspüren, und zwar durch rücksichtslosen Einsatz sich selbst gegenüber (seiner eigenen privaten Geschichte gegenüber) und durch ein rigoroses sich Aussetzen der „neuen“ Kommunikationstechnologie gegenüber.
Denn eins sollte man, denke ich, nicht aufgeben: davon auszugehen, dass all das an Hoffnung auf „Befreiung“, auf Emanzipation, auf Beendigung von Herr-Knecht-Verhältnissen in der Welt der Produktionsverhältnisse und Produktivkräfte nach dem großflächigen ersten Gescheitertsein zumindest in Schrumpfform nochmals reaktualisiert werden sollte, und zwar in der virtuellen Welt des Web, die instantan immer konkreter wird. Gewiss, es sind letztlich Kommunikationsverhältnisse, an denen mittelfristig experimentiert wird. Aber um so mehr ist es nötig, dass in ihnen der heute wie auch immer sich zeigende „wirkliche Mensch“ im Sinne von Marx dort vorkommt. ALS WEBER!
So. Dies in aller Kürze zu Deinem wunderbaren Projekt.
Alles Schöne und Gute Dir!
Bernd