Kultur / Pädagogik / Anthropologie

Christoph Wulf | Berlin
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© E.H.

Meine liebe Silvia,
schön, dass wir uns bei Gitta getroffen haben. Hier mein Text für Deine FESTSCHRIFT noch vor meiner Abfahrt nach Russland.
In alter und herzlicher Freundschaft
Dein Christoph


Anthropologie als Netzwerkwissenschaft

In kaum einem anderen Wissenschaftsfeld sind Netzwerkstrukturen in den letzten Jahren so wichtig geworden wie in der Anthropologie. Dafür gibt es wenigstens drei Gründe.

Einmal ist Anthropologie ein interdisziplinäres Forschungsfeld, in dem die Vernetzung mehrerer Strömungen eine zentrale Rolle spielt. Anthropologie umfasst heute wenigstens die folgenden fünf Paradigmata: 1. Evolution und Hominisation; 2. Philosophische Anthropologie; 3. Anthropologie in der Geschichtswissenschaft / Historische Anthropologie; 4. Kulturanthropologie; 5. die historisch-kulturwissenschaftliche Anthropologie, wie sie Interdisziplinäres Zentrum für Historische Anthropologie an der Freien Universität Berlin entwickelt worden ist. Die Realisierung dieses interdisziplinären Charakters der Anthropologie ist an die Netzwerkstrukturen gegenwärtiger Forschungen gebunden, in deren Rahmen heterogenes Wissen aufeinander bezogen und miteinander verschränkt wird.

Der zweite Grund für die Netzwerkstruktur der Anthropologie liegt im Bereich ihrer wissenschaftlichen Methoden. In der anthropologischen Forschung werden unterschiedliche Methoden aufeinander bezogen und miteinander verschränkt. Zu den wichtigsten gehören die Methoden der historischen Forschung mit intensiver Quellenarbeit und -kritik.
Diese Untersuchungen zielen auf ein diachrones anthropologisches Wissen. Der zweite zentrale Bereich anthropologischer Forschung ist durch ein synchrones methodisches Vorgehen gekennzeichnet. Hier sind die ethnographischen Methoden von besonderer Bedeutung. In diesen geht es um die Erforschung des Selbstverständnisses von Kulturen und Gesellschaften. Schließlich spielt die philosophische Reflexion als dritte Methode der Anthropologie eine wichtige Rolle. Sie zielt auf die Erarbeitung zentraler Begriffe und die Sicherung eines Bewusstseins der prinzipiellen Unabschließbarkeit anthropologischen Wissens. In der Vernetzung dieser drei zentralen methodischen Ansatzpunkte, zu denen noch die naturwissenschaftliche Evolutions- und Hominisationsforschung hinzukommt, entsteht heute das dringend benötigte die disziplinären Grenzen überschreitende anthropologische Wissen.

Die dritte zentrale Vernetzung innerhalb der anthropologischen Forschung erfolgt durch die internationale bzw. transnationale Kooperation.
Anthropologie kann nicht mehr unreflektiert aus nationalen Perspektiven heraus betrieben werden. Zwar kann sich Anthropologie nach wie vor auf den europäischen Kulturraum beziehen, doch muss dies heute im Bewusstsein geschehen, dass es andere, nicht weniger bedeutende Gesellschafts-und Kulturräume in der globalisierten Welt gibt. Internationale Vernetzung heißt hier: Es ist nötig, anthropologische Forschung zwischen den einzelnen Ländern, Gesellschaften und Kulturen zu vernetzen. Bereits in dem mehr als zehn Jahre währenden von Dietmar Kamper und mir durchgeführten Forschungsprojekt „Logik und Leidenschaft“ wurde die Notwendigkeit einer solchen Kooperation deutlich. Doch reicht heute eine Vernetzung zwischen deutschem, französischen, italienischen, britischen, skandinavischen und spanischen Forschern und Forschungsgruppen nicht mehr aus, um Anthropologie als eine Wissenschaft vom Menschen in der globalisierten Welt zu realisieren. Es bedarf auch der Vernetzung mit Forschern und Forscherinnen in anderen Gesellschaften und Kulturen wie z.B. der japanischen, indischen oder chinesischen.

Projekte vergleichender Anthropologie mit diachronen und synchronen Perspektiven sind nur möglich aufgrund der Vernetzung der anthropologischen Forschungen in paradigmatischer, methodischer und internationaler Hinsicht.

Zwei Beispiele dafür: Am Interdisziplinären Zentrum für Historische Anthropologie der Freien Universität Berlin führe ich mit einer japanischen Kollegin aus Kioto ein Projekt zur Inszenierung und Aufführung familialen Glücks in Deutschland und Japan durch. Dies ist ein ethnographisches, auch historische Dimensionen einbeziehendes Projekt, in dem wir in einem deutsch-japanischen Forscherteam, das aus sechs Kollegen besteht, untersuchen, wie Familien ihr familiales Glück in den Weihnachtstagen in Deutschland und in den Neujahrstagen in Japan inszenieren und aufführen. Dabei sind wir besonders an der Erforschung der Gemeinsamkeiten und Differenzen zwischen diesen beiden Kulturen im Hinblick auf das von uns untersuchte Forschungsfeld interessiert.

Innerhalb dieses Projekts gibt es eine vielfache Vernetzung auch insofern, als das Gesamtteam aus drei jeweils japanisch und deutsch besetzten Subteams besteht, die ihre eigenen Untersuchungen durchführen und diese sodann im Gesamtprojekt kommunikativ validieren. Solche Forschungen sind nur möglich, weil es heute die medialen Möglichkeiten des Internets, der Video- und Fernseharbeit - der Telekommunikation gibt.

Die anthropologische Forschung bemüht sich schließlich darum, Texte zu „weben“, in denen mehrere Begriffe, methodische Zugänge und kulturelle Perspektiven miteinander verschränken werden. Dabei entstehen neue Formen des Wissens. Innovativen Erkenntnis- und Wissensformen entstehen heute auch dadurch, dass die traditionellen Grenzen zwischen den wissenschaftlichen Disziplinen und den Künsten durchlässig geworden sind. In einigen Arbeitsfeldern der Anthropologie wird daher versucht, durch die Vernetzung von Wissenschaft, Literatur, bildenden Künste und Musik neues Wissen zu schaffen, für das die Diversität eine Konstitutionsbedingung ist.

 

Kurzbiografie Christoph Wulf, Dr. phil., geb. 1944 in Berlin. Studium der Erziehungswissenschaften, Philosophie und Geschichte in Berlin, Marburg, Paris und in den USA. Professor für Allgemeine und Vergleichende Erziehungswissenschaft an der FU Berlin.

Ausgewählte Schriften Theorien und Konzepte der Erziehungswissenschaft, München 1983; (Hg.): Wörterbuch der Erziehung, München 1984; (Hg.): Lust und Liebe, München/Zürich 1985. Seit 1981 zusammen mit Dietmar Kamper internationale Kolloquien zur „Historischen Anthropologie“, aus denen Publikationen entstanden wie: Die Wiederkehr des Körpers, Frankfurt/M., 1982; 2. Aufl. 1986; Der Andere Körper, Berlin 1984; Lachen-Gelächter-Lächeln, Frankfurt/M.1986; Das Heilige - Seine Spur in der Moderne, Frankfurt/M. 1987; Die sterbende Zeit, Darmstadt/Neuwied 1987; Die erloschene Seele, Berlin 1988; Der Schein des Schönen,1988; Transfigurationen des Körpers, 1989; Rückblick auf das Ende der Welt, 1990; Das Schweigen, 1992. Eine Zusammenfassung der Symposien: Hg. Chr. Wulf/D. Kamper, Logik und Leidenschaft, Dietrich Reimer Verlag, Berlin 2002. Hauptherausgeber von Paragrana. Transdisziplinäre Zeitschrift für Historische Anthropologie. Mitglied des Interdisziplinären Zentrums für Historische Anthropologie, von Kulturen des Performativen und des Graduiertenkollegs Körper-Inszenierungen sowie Vorsitzender der Gesellschaft für Historische Anthropologie.

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