Kommunikation / Medien / Design

Ulrich Giersch | Berlin
portrait

Zur Produktivkraft taktiler Schnittstellen

- vom Fotokopieren aus gesehen -
„life is Xerox, you are just a copy.“

Fast genau 500 Jahre nach Gutenbergs Druckerpresse - die um 1447 datiert werden kann - wurde das Fotokopiergerät (besser: die Elektro- oder Xerographie) erfunden: Im Jahr 1938 konnte Chester Carlson mit diesem Verfahren einen ersten Erfolg verbuchen, der Vertrag zur Herstellung eines funktionsfähigen Gerätes kam aber erst 1947 zustande. Oberflächlich betrachtet wurden hierbei zwei schwarze Künste miteinander kurzgeschlossen: Camera obscura und Druckerpresse. Und genau diese Kreuzung ermöglichte nicht nur die Entstehung eines neuen Typs von Information im Hinblick auf das Wort, sondern sie stellte auch neue Beziehungen zwischen Wörtern und Bildern, zwischen Text und Illustration her. Zu diesem Zweck entstand später ein neues Reich der Zeichen: Piktogramme und Menüleisten, mit deren Hilfe die Welt der Buchstaben und Bilder handgreiflich - aber ohne großes handwerkliches Geschick - zusammengeschnitten werden konnte.
Der Fotokopierer hat wie die meisten Büromaschinen eher unspektakulär im Arbeitsalltag Aufstellung gefunden, obwohl mit seiner Hilfe das Büro von zeitraubenden Tätigkeiten entlastet und Vorgänge enorm beschleunigt werden konnten. Das betrifft die kleine Gelehrtenstube ebenso wie den Lese- und Schreibplatz wissenschaftlicher Institutionen oder Großraumbüros. Das blasse Design dieser Gerätschaften mag dazu beigetragen haben, daß der Kopierer kaum großer Beachtung wert scheint. Dabei zielt seine Funktion auf das Herz eines jeden Büros, den Umschlagplatz für Schriftzüge aller Art. Hier werden Texte empfangen und verfaßt, dreht sich alles um die Abwicklung formulierter Sachverhalte. Der kleinste gemeinsame Nenner dieser Arbeitsstätten gründet in der Anfertigung von Kopien, sei es vom Ausgangsmaterial, vom Zwischen- oder Endprodukt. Die Kopie ist das A & 0 eines jeden Büros, einer jeden bürokratischen Maßnahme. Den uralten Beruf des Kopisten haben in diesem Jahrhundert Maschinen übernommen. Medial betrachtet hat die Kopie dabei eine erstaunliche Entwicklung gemacht, wurde sie doch zum Wegbereiter einer neuen Ordnung im Reich der Zeichen.

Die Magie dieses Mediums gründet in seiner Banalität, und dank der Banalität paßt diese Instant-Maschine wie der Deckel auf den Topf der siebziger Jahre. Als diese sich endlich ihrem Ende näherten, sprühte ein kluger Kopf jenes legendäre Graffity auf die Mauer: „Life is Xerox, you are just a copy.“ Aus diesem Stoff entwickelten philosophische Strategen eine Eschatologie der Simulationen und Simulakren, eine virtuelle Weltanschauung, die im Bereich der Grenzwissenschaften angesiedelt ist.

Wenn der PC als text-, bild- und datenverarbeitendes Gerät den achtziger Jahren seinen Ausdruck verliehen hat, so ist die Fotokopie schlichtweg das Medium der siebziger. Dem vergleichsweise farblosen Jahrzehnt ist die Fotokopie wie auf den Leib geschneidert, denn damit präparierte sich diese Ära für denÜbergang in eine Zeit, die mit den schillernden Techniken des Zitierens, Plagiierens, Simulierens, des Klonens und Coverns eine noch nicht absehbare Ära der Exploration und Expropriation des Vorhandenen, Vergangenen und Vergessenen begründet hat.

Erst in den achtziger Jahren entstanden durch Intervention von Börsenverein und der Verwertungsgesellschaft Wort Rückkoppelungen, so daß eine Vielzahl von Kontroll- und Verwertungsmaßnahmen installiert werden konnte.
Auf den Fotokopierer wurden nur wenige Elogen verfaßt; er machte weder Furore noch wurde er in irgendeiner Weise scharf attackiert, sieht man von einigen besorgten Pädagogen ab. Er ist und bleibt ein Instrument des Diebstahls und der Verschwendung. Da er bei den Benutzern automatisch Spuren eines schlechten Gewissens hinterläßt, sein oftmals sinnloser Papierauswurf, sein Ozonausstoß und die diffizile Entsorgungsproblematik die Erfolgsbilanz der Herstellerfirmen nicht tangieren darf, bewegt er sich bis heute in einer medialen Grauzone.
Auf der Ebene des Speicherns ist es also weniger das kreative Moment desKopiergerätes, das genutzt wird, als vielmehr die saubere Ökonomie der Ver- und Zuteilung vervielfältigter Dokumente. Auch wenn sich das Arbeitstempo durch derartige mediale Nutzungen erhöht haben mochte, blieb der arbeitsökonomische Gewinn kaum richtig meßbar und daher eher minimal. Die Revolution brachte erst der PC, durch den sich die handgreiflichen und raumdurchmessenden Gesten des Ablegens und Ordnens auf die Benutzeroberfläche eines Desktop-Terminals beschränken. Erinnerungen von Sekretärinnen belegen, daß die Fotokopie damals vor allem eine neue Dimension in der Wahrnehmung von Originaldokumenten induziert hat: letztere wurden schlichtweg der Kopie gleichwertig, ja die Kopie besaß sogar eine das Dokument in den Schatten stellende Frische und Echtheit. Ein neuer Wind blies durch die Ordnungs- und Ablagesysteme. Die dadurch gewonnene Zeit konnte endlich anderen Medien und Lüsten geschenkt werden.

Die Reproduktion im zeitalter ihrer Reproduktion

Anders als beim Foto oder Video wird die Materialität des Originals auf dem klassischen Fotokopiergerät in kaum wahrnehmbarem Maße fingiert oder durch andere Qualitäten ersetzt. Aus diesem Grund bleiben die Sammelkisten in den Kopierläden bis heute angefüllt mit vergessenen Originalen, sofern es sich um Schriftquellen oder einfache zeichnerische Blätter handelt. Da die Verdoppelungsleistung bis in die Materialität hineinzureichen scheint, entzündet sich die ästhetische Faszination nicht so sehr an der Wahrnehmung von etwas Verändertem, sondern an der Wahrnehmung des sich vervielfachenden Gleichen. Deshalb ist die Vermutung, daß der Text per Kopie in ein neues Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit getreten ist, weniger am Apparat selbst oder an seinen unmittelbaren Produkten abzulesen; Aufschluß geben eher die daran gekoppelten Umgangsformen. Denn jeder Apparat, jedes neue Medium erzieht seinen Benutzer zu einem Habitus im Sinne der Bedienungsanleitung. Dieses gestuelle Moment gilt es auch für den Kopierer zu rekonstruieren. Das Kopier gerät wäre demnach als ein Instrument zu betrachten, mit dem ein Textkörper konsumiert, also genommen, gelesen, besessen aber auch wieder ausge schieden werden kann. Zur Illustration sei ein Vergleich angeführt. Als im 17. Jahrhundert die Gabel - und nicht mehr die bloße Hand - zwischen dem Essen und dem Esser vermittelte, wurden neuartige Eßrituale und überhaupt ein ganz anderes Verhältnis zum Essen selbst herausgebildet. Auch der Lesehunger hat sich durch das Kopiergerät verändert, und es bildeten sich neue Formen der Lust, aber auch der Unlust am Text heraus.

Entsprechend der im Medium der Fotokopie erprobten Praxis wurden Texte schon wenig später auf dem Personal Computer - dem Medium der achtziger Jahre - verarbeitet; das Verschieben und Manipulieren von Textblöcken hat sich dabei nur entmaterialsiert. Aus der mechanischen ist die elektronische Schere geworden, aus dem Kopierer der Scanner.

Mit dem Schrumpfen der weitläufigen Gutenberg-Galaxis, ihrer Transformation in einen anderen Aggregatzustand, hat sich notgedrungen auch das Verhältnis von Wörtern und Wissen, Bildern und Bedeutungen neu geordnet - eine Vision, die schon Lissitzky propagiert hatte.

Ähnlich prophezeite Moholy-Nagy angesichts neuer Instant-Medien eine Revolutionierung derTypographie - und damit auch ein ganz anderes Lesen und Denken.

Das im frühen 20. Jahrhundert von seiten der bildenden Kunst skizzierte Modernisierungs- und Revolutionierungsprogramm der Schrift-, Bild- und Denkräume hat spät seine adäquaten Medien gefunden.
Erst mit der Text- und Datenverarbeitung auf dem Bildschirm werden anhand von Piktogrammen, Balken und Fenstern Schreibflächen, Bildräume und Denkintervalle abgesteckt, die deutlich an konstruktivistische Gestaltungsprinzipien erinnern. In diesem Kontext hat der Fotokopierer eine nicht zu unterschätzende Vorarbeit geleistet; er hat die Grenzen zwischen den unterschiedlichen Zeichen aufgelöst und die Übergänge, aber auch das sachliche Nebeneinander, eine Gleichberechtigung von Buchstabe und Bild, Piktogramm und Leerfläche, Text und Illustration ermöglicht, nicht zuletzt indem ein erneutes Kopieren die reliefartigen Schnittstellen wieder in ein planes, homogenes Nebeneinander transformiert. Das Abkupfern, Abschreiben, Abtippen, Ablichten und andere reproduktive Abarten haben sich seitdem beschleunigt, und in der Beschleunigung hat sich das ästhetische - wie auch ethische - Gefälle fast schon nivelliert. Das 'Klauen' ist kein Akt mehr, der raffiniert vertuscht oder eingeläutet wird; er ist mit den Maschinen selbsttätig geworden.

Die Zukunft gehört dem Digital: eine Scannereinheit liest von der Vorlage die Daten gerastert ab und transformiert sie in gewünschte Punktraster des Printers. Bei diesen Instant-Medien geht es um Punkte und Leerstellen, um Zeitpunkte und Intervallgrößen. Raum und Zeit sind zur schnellen Weiterverarbeitung in kleinste Größen zerlegt worden, auch um die Sinne mit scheinbar fließenden Übergängen oder haarscharfen Kontrasten zu täuschen. Damit können die analogen Bildmedien und ihre optischen Schnittstellen nicht mehr konkur rieren: Erst die digitale Zoomtechnik ermöglicht beispielsweise, in einem Schritt Maßstabsveränderungen zwischen 35 und 1200 Prozent vorzunehmen. Selbst bei extremsten Verzerrungen, die zuvor einprogrammiert werden müssen, bleibt die Schärfe der Abbildung erhalten. Nicht das Medium selbst, sondern das noch einmal dazwischen vermittelnde Intermedium gewinnt an Bedeutung, denn die Digitalisierung läßt „sämtliche Grenzen zwischen den einzelnen technischen Medien verschwimmen“.

Mit dem Kopiergerät und seinen digitalen Beschleunigern hat sich die schreibende Hand in ein taktiles Befehlsorgan verwandelt. Auf dem Bildschirm herrscht sie über ein Feld von Schnittstellen, ist Marker im Sinne des Wortes geworden: Grenzzieher und Grenzüberschreiter. War es bei der Fotokopie noch der mechanische, so vermitteln Mouse oder Ball den elektronischen Scherenschnitt, der im Nu jedes mediale Fragment zu einem Imperium aufblasen oder ganze Multimediapakete miteinander verschnüren kann. Auf dem Touchscreen werden die Befehlzeiten noch weiter verkürzt. Mit dem Design dieser Benutzeroberflächen entstehen die Berührungspunkte zu ganz unterschiedlichen Daten und Medien. Für das Fingerspitzengefühl, mit dem hier kopiert und komponiert wird, stehen allerdings weniger die Collagetechniken und die konstruktivistischen Ordnungsprinzipien der bildenden Kunst Pate. Für das hier beginnende Spiel der „Cross-Media“ - Produktion und Rezeption - sind vor allem synästhetische Sensibilitäten gefragt: Empfindlichkeiten, die von der Musik profitieren. Hören, Tasten, Sehen, Fühlen - im taktilen Verbund der Schnittstellen spielt ein Orchestrion, das McLuhan vor Jahrzehnten temperiert hat. Die Musikanten des großen Orchesters, schweigsame Büroangestellte oder im eigenen Auftrag handelnde Bürovorsteher bewegen sich in einer auf kleinstem Raum verdichteten Befehlsstruktur, deren wichtigstes Kriterium die Kommunizierbarkeit ist. Fast jeder Schritt wird gespeichert und kopiert oder kann - nicht nur vom Hacker - kopiert werden. Die Kopie hat ein neues Stadium erreicht: Kopie ist nur noch, was kompatibel ist.

 

Biografie Ulrich Giersch, Dr. phil., Studium der Kunstwissenschaft in Marburg, Paris und Berlin. Promotion 1984. Von 1985-1999 zahlreichen Tätigkeiten als Ausstellungskurator. Seit 1990 Geschäftsführer einer Projektagentur mit Sitz in Berlin. Eine Auswahl der produzierten Medien auf der angegebenen Website.

projektagentur(AT)t-online.de
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