Lifesciences

Martin Wolfgang Gossmann | Berlin
portrait
© Marcel Gisler

 

Nein, ein 'Vor-Bild' oder eine 'Vor-Gabe' wollte ich nicht.
Im Gegenteil.

Ich gehe davon aus, dass wir viel mehr darüber erfahren, was wir als Ge-Web-e betrachten, erleben, wünschen, wenn wir auf Vorbilder und -gaben verzichten.

Um dem Gewebe der Assoziationen und Konnotationen, dem Gedanklichen, dem Affektiven und Erlebnishaften folgen zu können, das in uns schlummert und entdeckt werden will.

Gewebe: das erste, was mir einfiel, war nicht das bildhafte Gewebte, sondern: Netzwerk, Vernetzung, networking. Also ein abstrakter Begriff, der aber für mich sogleich mit einer konkreten leiblichen Erfahrung verbunden war.

Abstrakt, weil ein Netzwerk meines Erachtens nicht unmittelbar erlebbar ist.

Das Konzept Netzwerk war mir erstaunlicherweise deswegen sofort unangenehm, weil für mich damit etwas Un-frei-williges verbunden war. Das muss nicht so sein, das muss auch nicht für jeden so sein. Warum ist es für mich so schnell so? Netzwerk heißt vernetzt sein, fiel mir ein, nicht: mich vernetzen, weil ich es will. Ich dachte also an einen Zustand und nicht an ein Tun. Und der Zustand verfestigte sich, wurde starr, gefror.

Tun ist beweglicher als Sein.

Also erkannte ich, dass für mich Vernetzung nur dann 'gut' ist, wenn ich sie selber vornehme. Ich will mich bei Bedarf gerne selber vernetzen, aber ich will nicht vernetzt werden. Dabei spielen sicher historische Gründe mit eine Rolle. Hitlerjugend, Parteizugehörigkeit, Verbündung, all so etwas fällt mir ein. Nicht etwa: Zusammenhalt, Zusammenstehen, sich unterstützen.

Und auch eine andere Dimension wird mir deutlich: die in meinen Augen ausufernde Tendenz der Inter-net-netz-werke: Facebook. Gesichtsbuch? Brauchen wir neue Formen der Vernetzung auf Computerservern, weil wir es im 'richtigen Leben' nicht mehr schaffen, mit einander in Kontakt zu treten? Ein ganz anderer Aspekt ist das Gewebe, das ich als Medizinstudent kennenlernte. Ich habe noch sehr gut den Histologiekurs in Erinnerung, den ersten Blick durchs Mikroskop. Wir 'sahen' nichts, weil wir nichts erkannten und wurden aufgefordert, das zu zeichnen, was unsere verständnislosen Augen wahrnahmen. Und so bekamen die Details Kontur und die Zusammensetzung wurde deutlicher, als wir das, was unsere Sinneswahrnehmung erfasste mit Sinn erfüllten. Und das, was hier zusammengesetzt war - die Zelle mit ihren Zellbausteinen - das war wiederum der Baustein für das Größere: das Gewebe. Und dann lernten wir, dass es Stützgewebe und Funktionsgewebe gibt. Das Funktionsgewebe tut das, wofür das einzelne Organ zuständig ist; die Nierenzellen führen die Nierenfunktionen aus, die Leberzellen die Leberfunktionen. Und sie sind eingebettet in etwas, was dem Organ seine jeweils eigene Form gibt. Ohne das Stützgewebe wäre das Funktionsgewebe ein lockerer Haufen, das seine Funktion nicht zielgerichtet tun kann.

Und dann hatte ich einen erschreckenden Gedanken: Ist dieses Prinzip auf das soziale Gewebe anwendbar? Wenn manche angeblich die „Leistungsträger der Nation“ sind, was sind die Anderen? Und was ist eigentlich ein Würdenträger?

 

Biografie Martin Gossmann, Dr. med, geboren 1959 in Kassel, aufgewachsen in Marburg an der Lahn und Siegen/ Westfalen, Studium in Freiburg im Breisgau, berufliche Ausbildung und Tätigkeit in Braunschweig, Niedersachsen, Frankfurt am Main und Cincinnati am Ohio/USA. Arzt für Neurologie und Psychiatrie, Facharzt für Psychosomatische Medizin, Psychoanalytiker. Lebt in Berlin

martin.gossmann(AT)snafu.de