Von der Gerontokratie zu Altenüberhang und Altenschwemme.
Nicht länger hilflos in Seilen und Netzen
Äußere Anlässe waren zunächst mein Ausscheiden aus dem Beruf und
dann der Umzug nach Mainz-Bischofsheim. Da musste ich mich in einer
neuen Umgebung endgültig mit dem Thema Älterwerden beschäftigen.
Und wie immer tat ich das sehr gründlich. Da las ich dann, was andere
schon Schlaues und Absurdes über das Thema geschrieben hatten.
Deutlich zu unterscheiden waren Lob und Klage, wobei letztere im Laufe
der Geschichte allmählich die Oberhand gewann. Die Ehrerbietung
gegenüber dem Alter - allerdings wurden törichte Greise bereits in
der commedia dell' arte heftig verspottet - wich zunehmend dem
Jugendwahn und der Altersangst. An Ciceros De senectute knüpfte
in jüngster Zeit der italienische Rechtsphilosoph Roberto Bobbio an.
Und der war beim Schreiben immerhin schon 83, musste es also wissen!
Weil nun inzwischen die ganze Menschheit älter wird, untersuchte das
MPI für Bildungsforschung in Berlin mit empirischen Methoden auch
die Entwicklung im Alter und kam dabei auf die Weisheit, die freilich
niemand in den Schoß fällt und schon früh eingeübt werden sollte. Im
Rahmen des Seniorenstudiums wurden dann an einzelnen Universitäten
sogar spezielle Trainingskurse dazu angeboten, aber die kamen wohl
bei den meisten viel zu spät. Welch ein Blödsinn also, zumal noch gar
nicht klar ist, ob nicht schon Kinder weise sein können, da sie schon
von mehreren Autoren zu wahren Philosophen erklärt wurden und die
Kinderuniversitäten inzwischen schon von Experten beschallt werden,
um unsere internationale Wettbewerbsfähigkeit zu steigern. Aber ist
das nicht eher ein Zeichen für die Infantilisierung unserer Gesellschaft?
Jedenfalls ließ mich das Thema, in Würde, Weisheit, mit Zipperleins und
wahrscheinlich multimorbid, älter zu werden, nicht mehr los, und ich
steckte meine Nase sogar eine Zeitlang in gerontologische Fachliteratur.
Dabei wurde mir schließlich klar, dass auch hier die komplexe Realität
höchstens multifaktoriell mit unserer begrenzten Gehirnkapazität
angemessen interpretiert werden kann.
Ja, das Leben ist eben nicht nur eine Angelegenheit von Ernährung,
Fitnessstudios und Reisen. Und auch die Doppelhelix mit ihren basischen
Buchstabensequenzen allein bringt es nicht. Denn was die Menschen
in einer hyperindividualisierten Gesellschaft am meisten bedrückt,
ist doch, ehrlich gestanden, die Einsamkeit, gerade bei hoher
Betriebsamkeit (vgl. Paul Virilios „Rasender Stillstand“). Deshalb wird
uns schon länger von allen Seiten zugerufen - vernetzt euch, vernetzt
euch endlich - höchstpersönlich, am Telefon und natürlich auch im
Internet, beruflich und privat aber z.B. auch altersspezifisch. Und so stieg
ich dann erwartungsvoll in das Seniorennetzwerk 55Plus Wiesbaden ein
und gehörte dort schon bald zu den Aktiven. Nach dem Muster der
Cafés philos in Paris gründete ich einen Diskussionsclub für Praktische
Philosophie, wo jeder/jede reden kann, wie ihm/ihr der Schnabel
gewachsen ist. Ab und zu gebe ich als Semiprofi meinen Senf dazu. Und
hinterher gehen wir dann meistens noch auf ein Bier. Das funktioniert -
auf jeden Fall in der Dritten Lebensphase - ganz prima. Von der vierten
will ich hier lieber nicht reden. Denn dann brauchst Du vor allem Mut!
Aber das würde mir jetzt sowieso (noch) keiner glauben! Übrigens
Methusalem, der wurde laut Gen 5,21-27 ganze 969 Jahre alt. Aber das
kann doch wohl nicht stimmen!
Alexander Hofer