Kunst und Täuschung - Der Zauber Penelopes
Künstlerinnen und Künstler schätze ich, weil ich die Kunst schätze. Sie ist ein rettendes Therapeutikum oder zumindest ein Einspruch gegen die gewalttätige Realität und im besten Falle Aufklärung. Wenn alle Menschen sich mit Kunst beschäftigen würden, gäbe es keine Kriege. Das gilt auch für die Dichtung und in einem eingeschränkten Maß für die Philosophie. Warum in einem eingeschränkten Maß? Immer wenn Philosophie meint, sie habe die Wahrheit gepachtet, was ja letztens heißt, dass es sich um Metaphysik handelt, irrt sie und ist martialisch gefährlich gefährdet. Immer auch, wenn sie meint, sie könne sich erheben über das Leben, über den Körper, über die Natur, dann ist sie nicht nur unglaubwürdig, sondern unsolide. • Bei meinem Textbeitrag handelt es sich um einen Auszug aus einem längeren Vortragstext, GeMaLe
Während Odysseus, König von Ithaka und ein tapferer Kämpfer der Griechen im Trojanischen Krieg,
schon seit Jahren die Weltmeere per Schiff durchsegelt, wartet seine treue Ehefrau Penelope,
sehnsüchtig auf seine Heimkehr. Zahlreiche Freier waren unterdessen in den Palast eingedrungen und
harrten dort aus, um die Stelle von Odysseus, den sie für tot hielten, einzunehmen. Penelope verstand es
jedoch, sie immer wieder zu vertrösten, indem sie vorgab, sie müsse erst ein Totentuch für ihren
Schwiegervater Laërtes weben. Allerdings trennte sie in der Nacht immer wieder auf, was sie am Tag
gewebt hatte.
In der (ursprünglich) weiblichen Logik allgemein und in der Logik Penelopes insbesondere machen
Regression und Retardieren überlebenswichtigen Sinn. Nicht zuletzt deshalb weil das Weben und das
Rückgängigmachen des Gewebten Aufschub und damit Zeit gewähren und zudem Raum geben zur
Möglichkeit der Rückkehr ihres Gatten.
Die Analogie des Webens, die, genau betrachtet, ein "funktionales Phänomen" (Silberer) des Traums der
Mythologie zwischen natürlicher und künstlicher Symbolik zur Abenteuerreise des Odysseus darstellt,
kann man sich vor Augen führen, indem die Technik des Webens näher angeschaut wird. Das Web-
Schiffchen, das beim Weben wellenförmig mit seinen Schussfäden die Kettfäden über- und unterschifft,
bewegt sich wie das Schiff des Odysseus auf den Wellen des Mittelmeeres und gibt ihm im
vorgegebenen Rahmen Struktur. Immer aber, wenn das Schiff des Odysseus in die Irre führt, was seit
Jahren der Fall zu sein scheint, ist die Vorgabe des exakten Wegs zurück nach Hause gegeben durch die
korrekte Rückgängigmachung des Gewebten, was nur möglich ist durch die umgekehrte Führung des
Schiffchens in der entgegengesetzten Bewegung der Fadenführung.
Es ist also tatsächlich durch die Gewinnung von Zeit nicht nur ein Versuch des Hinhaltens der
Belagerer, sondern auch ein mimetischer, magisch-mystischer Akt des ideellen, immanent dinglichen
und auch körperlichen Begleitens der abenteuerlich gefährlichen Reise des Odysseus. Nicht umsonst
also wird Penelope als die treue Gattin gehandelt. Nur, dass diese Charakterisierung zu wenig vermittelt
von dem, was Penelope tatsächlich ist und leistet.
Penelope verdichtet, verengt den weiblichen Zyklus, der immerhin etwa vier Wochen Zeit in Anspruch
nimmt auf 24 Stunden. Indem Penelope in ihrer speziellen Websituation ihren weiblichen Zyklus
objektiviert und mit dem Tag-Nacht-Wechsel in Zeitrafferversion vorstellt, verkürzt sie die Zeit, die sie
zugleich im Aufschub gewinnt.
Wie aber ist die Analogie der beiden Zyklen von Werden und Vergehen, hier der Tag-Nacht-Zyklus des
Webens und Auf-Trennens und dort der weibliche monatliche Zyklus des Bildens und der Rückbildung
der Gebärmutterhülle, trotz so großer Zeitunterschiede aufrechtzuerhalten? Das, was anfangs mehr als
zu irritieren schien in der Webeaktion Penelopes, bekommt bei der Betrachtung hoch komplexer
Naturphänomene tatsächlich einen tiefen Sinn. Ihr Rückzug bis hin zur Auflösung ihres Produkts ist
lebensrettend, lebensspendend und Gedächtnis-konstituierend zugleich. Gegen permanentes Wachstum
ohne Reflexion und Regression setzt sie den Zauber der Natur, der überhaupt nichts mit Betrug zu tun
hat.
Kunst und Täuschung gehören auf wunderbare Weise zusammen, vielleicht in der Form, wie es
Baudrillard in einem Interview einmal mit dem Begriff der Illusion ausgedrückt hat, nämlich dass Kunst die Fähigkeit zur Illusion ist, wobei Illusion bedeutet, "etwas aufs Spiel zu setzen, sich der Magie des
Scheins auszuliefern, dem Geheimnis. Simulieren ist immer ein Spiel mit dem Selben. Illusion dagegen
ist ein Spiel mit dem anderen, mit der Andersheit, der Alterität. Illusion ist Verführung. Simulation ist
zwar auch faszinierend, anziehend, aber nicht verführerisch, kein Duell, kein Ereignis."