Philosophie

Gertrud M. Lettau | Düsseldorf
Portrait Gertud M. Lettau
Foto+© GeMaLe

Kunst und Täuschung - Der Zauber Penelopes

Künstlerinnen und Künstler schätze ich, weil ich die Kunst schätze. Sie ist ein rettendes Therapeutikum oder zumindest ein Einspruch gegen die gewalttätige Realität und im besten Falle Aufklärung. Wenn alle Menschen sich mit Kunst beschäftigen würden, gäbe es keine Kriege. Das gilt auch für die Dichtung und in einem eingeschränkten Maß für die Philosophie. Warum in einem eingeschränkten Maß? Immer wenn Philosophie meint, sie habe die Wahrheit gepachtet, was ja letztens heißt, dass es sich um Metaphysik handelt, irrt sie und ist martialisch gefährlich gefährdet. Immer auch, wenn sie meint, sie könne sich erheben über das Leben, über den Körper, über die Natur, dann ist sie nicht nur unglaubwürdig, sondern unsolide. • Bei meinem Textbeitrag handelt es sich um einen Auszug aus einem längeren Vortragstext, GeMaLe

Während Odysseus, König von Ithaka und ein tapferer Kämpfer der Griechen im Trojanischen Krieg, schon seit Jahren die Weltmeere per Schiff durchsegelt, wartet seine treue Ehefrau Penelope, sehnsüchtig auf seine Heimkehr. Zahlreiche Freier waren unterdessen in den Palast eingedrungen und harrten dort aus, um die Stelle von Odysseus, den sie für tot hielten, einzunehmen. Penelope verstand es jedoch, sie immer wieder zu vertrösten, indem sie vorgab, sie müsse erst ein Totentuch für ihren Schwiegervater Laërtes weben. Allerdings trennte sie in der Nacht immer wieder auf, was sie am Tag gewebt hatte.

In der (ursprünglich) weiblichen Logik allgemein und in der Logik Penelopes insbesondere machen Regression und Retardieren überlebenswichtigen Sinn. Nicht zuletzt deshalb weil das Weben und das Rückgängigmachen des Gewebten Aufschub und damit Zeit gewähren und zudem Raum geben zur Möglichkeit der Rückkehr ihres Gatten.

Die Analogie des Webens, die, genau betrachtet, ein "funktionales Phänomen" (Silberer) des Traums der Mythologie zwischen natürlicher und künstlicher Symbolik zur Abenteuerreise des Odysseus darstellt, kann man sich vor Augen führen, indem die Technik des Webens näher angeschaut wird. Das Web- Schiffchen, das beim Weben wellenförmig mit seinen Schussfäden die Kettfäden über- und unterschifft, bewegt sich wie das Schiff des Odysseus auf den Wellen des Mittelmeeres und gibt ihm im vorgegebenen Rahmen Struktur. Immer aber, wenn das Schiff des Odysseus in die Irre führt, was seit Jahren der Fall zu sein scheint, ist die Vorgabe des exakten Wegs zurück nach Hause gegeben durch die korrekte Rückgängigmachung des Gewebten, was nur möglich ist durch die umgekehrte Führung des Schiffchens in der entgegengesetzten Bewegung der Fadenführung.

Es ist also tatsächlich durch die Gewinnung von Zeit nicht nur ein Versuch des Hinhaltens der Belagerer, sondern auch ein mimetischer, magisch-mystischer Akt des ideellen, immanent dinglichen und auch körperlichen Begleitens der abenteuerlich gefährlichen Reise des Odysseus. Nicht umsonst also wird Penelope als die treue Gattin gehandelt. Nur, dass diese Charakterisierung zu wenig vermittelt von dem, was Penelope tatsächlich ist und leistet.

Penelope verdichtet, verengt den weiblichen Zyklus, der immerhin etwa vier Wochen Zeit in Anspruch nimmt auf 24 Stunden. Indem Penelope in ihrer speziellen Websituation ihren weiblichen Zyklus objektiviert und mit dem Tag-Nacht-Wechsel in Zeitrafferversion vorstellt, verkürzt sie die Zeit, die sie zugleich im Aufschub gewinnt.

Wie aber ist die Analogie der beiden Zyklen von Werden und Vergehen, hier der Tag-Nacht-Zyklus des Webens und Auf-Trennens und dort der weibliche monatliche Zyklus des Bildens und der Rückbildung der Gebärmutterhülle, trotz so großer Zeitunterschiede aufrechtzuerhalten? Das, was anfangs mehr als zu irritieren schien in der Webeaktion Penelopes, bekommt bei der Betrachtung hoch komplexer Naturphänomene tatsächlich einen tiefen Sinn. Ihr Rückzug bis hin zur Auflösung ihres Produkts ist lebensrettend, lebensspendend und Gedächtnis-konstituierend zugleich. Gegen permanentes Wachstum ohne Reflexion und Regression setzt sie den Zauber der Natur, der überhaupt nichts mit Betrug zu tun hat.

Kunst und Täuschung gehören auf wunderbare Weise zusammen, vielleicht in der Form, wie es Baudrillard in einem Interview einmal mit dem Begriff der Illusion ausgedrückt hat, nämlich dass Kunst die Fähigkeit zur Illusion ist, wobei Illusion bedeutet, "etwas aufs Spiel zu setzen, sich der Magie des Scheins auszuliefern, dem Geheimnis. Simulieren ist immer ein Spiel mit dem Selben. Illusion dagegen ist ein Spiel mit dem anderen, mit der Andersheit, der Alterität. Illusion ist Verführung. Simulation ist zwar auch faszinierend, anziehend, aber nicht verführerisch, kein Duell, kein Ereignis."

 

Biografie Mehrjährige Tätigkeit am Philosophischen Institut der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf. Dozentin für Psychologie, Ethik und Sozialmedizin in diversen Institutionen, u.a. an der Akademie für Psychoanalyse und Psychosomatik Düsseldorf. Vortragstätigkeit und Veröffentlichungen in den Bereichen Psychoanalyse und Philosophie mit den Arbeitsschwerpunkten Philosophie der Geschlechterdifferenz, Traum-Schlaf-Gedächtnis-Theorie, Philosophie der Krankheit und Philosophie der Gewalt.

gertrud.lettau[AT]web.de
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