Kommunikation / Medien / Design

Eckhard Hammel | Berlin
Idee E.H.
© S.K.B.
Blick auf den Westhafen, Berlin,
vom Balkon der Wohnung Alexander Meschnigs

10.000 Tage

Im Jahr 1978 lese ich im Seminar von Rudolf Heinz eine von Dietmar Kamper herausgegebene Textsammlung. Ihr Titel lautet "Über die Wünsche. Ein Versuch zur Archäologie der Subjektivität". Dreißig Jahre später treffe ich Silvia Breitwieser. Zwei Ereignisse, die weit auseinanderliegen, und doch für mich zusammengehören. Sie sind Teil meiner Geschichte, meiner Er-Innerung, meines Inneren; eines Logos, der ich bin. Getrennt durch ein Intervall von 10.000 Tagen berühren sie sich aus der Distanz und treten in einen Dialog, der diesen Logos umgreift und durchzieht.

Ohne ein unüberschaubares Gewebe an Zuständen - das sind die Begegnungen, Beziehungen, Botschaften und Botschafter - die in der Zwischen-Zeit entstanden sind und die sich berührt haben, hätte es diesen Dialog nicht gegeben.
Zu-ständig ist dieses Gewebe, aber in dieser bloßen Zuständigkeit hält es sich im Verborgenen, wird unkenntlich und unscheinbar. Tatsächlich un-scheinbar gehört es weder zur Ordnung des Seins noch zur Ordnung des Scheins.

Wie kann dieses Gewebe gedacht werden, ohne den Pseudopodien der Netzwerk-Technokratie, die in alle Bereiche der Repräsentation des Lebens vordringt, zuzuarbeiten? Das Zusammenwirken solcher Beziehungen berechnen zu wollen, so wie man die Kommunikation in einem Netzwerk nach den Gesetzen der Logik formalisiert, wäre jedenfalls töricht, denn die Komplexität ist Gegenspielerin der Berechenbarkeit nicht nur, weil sie umgreifender ist als diese, sondern weil sie erst mit der imperialen Ausdehung der Berechenbarkeit an deren Grenzen erscheint. Das Gewebe der Beziehungen ist dergestalt kein Social Network. Es entzieht sich apriori der Regentschaft des toten Geistes der Logik, weil es sich an dessen Grenzen, den Grenzen der Repräsentation immer wieder bricht und neu konstituieren muss.

Dennoch erschöpft sich dieses Gewebe nicht in der Zufälligkeit, die man dem Spiel des Lebens nachsagt, denn komplementär zu seiner Unüberschaubarkeit kann man Knoten - besser gesagt: Zellen - identifizieren, die seine Abstraktion auf wenige Grade erlauben. Jede mögliche Abstraktion aber, also jede Archäologie der Beziehungen, stößt unweigerlich und bedingungslos auf eine Textur, die sie zugleich durchzieht und umgibt.

Die Texte Dietmar Kampers bilden diese Textur. Sie durchziehen und umgeben das Gewebe, das sie hervorgebracht haben, dem sie also innewohnen und dem sie gleichzeitig äußerlich bleiben. Es sind Diskurse, die selbst ein Denken des Gewebes und seiner Kontingenzen darstellen und selbst ein Gewebe bilden. Sie sind mit mir und jedem von uns in einen je eigenen Dialog getreten und haben in der Mannigfaltigkeit dieser Dialoge, indem sie existieren, eine Einladung zur Teilhabe und zum Miteinander ausgesprochen.

Kein Text ist nur ein Text: Die Einbildungskraft dieser Textur hat mich und jeden von uns auf diese je eigene Art berührt. Sie hat etwas mit mir gemacht und aus mir gemacht. Ohne diese Textur gäbe es die Beziehungen und Ereignisse nicht. Ohne die Beziehungen und die Ereignisse dieses Gewebes wäre ich nicht derjenige, der ich bin.

Literaturhinweis Dietmar Kamper: Über die Wünsche. Ein Versuch zur Archäologie der Subjektivität, Carl Hanser Verlag, München Wien 1977. • Dietmar Kamper: Je mehr Zufall, desto mehr Spiel. Versuch über das Kontingente, in: Synthetische Welten. Kunst, Künstlichkeit und Kommunikationsmedien, hg. v. Eckhard Hammel, Verlag die blaue eule, Essen 1994, S. 109-117; Videoaufzeichnung dieses Vortrags unter kamper.cultd.net, Kapitel "A/V-Dokumente".

Abbildungen Die Zeichnungen von Eckhard Hammel entstammen der Konzeptionsphase des GeWebeWerks, Frühjahr 2009.

Druck-Version Eckhard Hammel, 10.000 Tage. Dietmar Kamper, in: Treibgut. Essays zu Kunst, Medien und Spektakel, Framersheim: Brighton Verlag, 2015, Seiten 76-77.

Verweis Eine kritische Entgegnung auf Eckhard Hammels Text, verfasst von Fritzi Porz.

Konzept Zum Web-Konzept des GeWebeWerks vgl. Eckhard Hammel, Gewebe versus Netz. Über Silvia Klara Breitwiesers GeWebeWerk, in: Treibgut. Essays zu Kunst, Medien und Spektakel, Framersheim: Brighton Verlag, 2015, Seiten 72-75.

 

Biografie Eckhard Hammel, geb. 1956 in der Geburtsstadt Friedrich Engels' Lehrmeister und Autor • Lebt und arbeitet in Berlin • Herausgeber der Online-Edition "CultD. Communication unlimiteD".

Veröffentlichungen Auswahl an Publikationen

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